Ich war schon immer recht leistungsorientiert und „ehrgeizig“ stand schon als charakteristisches Adjektiv in meinem allerersten Zeugnis, das ich daraufhin nicht meinen Eltern zeigen wollte, weil ich mich dafür schämte als „(ehr)geizig“ bezeichnet worden zu sein. Geizig bin ich nämlich hingegen gar nicht.
Meine Eltern mussten nie Druck auf mich ausüben, denn ich war von ganz alleine in meinen Schulbüchern versunken. Und wenn ich mal Mist in meinem Leben gebaut habe, boxte ich mich auch wieder von alleine hinaus. Von diesem Ehrgeiz und der Willenskraft hat Sonea eine große Portion abbekommen. Und bei mir ist zwar immer noch genug davon übrig geblieben. Aber mit Soneas Geburt sehe ich vieles nicht mehr ganz so verbissen und ich habe eingesehen, dass es nicht immer darauf ankommt der Schnellste und Beste zu sein. Schnell war ich sowieso noch nie…
Wenn ich die siebeneinhalb Jahre reflektiere, stelle ich mit viel Dankbarkeit fest welch positiven Einfluss die Geburt der Kinder und nicht zuletzt das kleine Extra, das Sonea mit in die Wiege gelegt wurde, auf unser und vor allem auch mein Leben genommen hat.
Diese siebeneinhalb Jahre waren sehr steinig und sind auch nicht spurlos an mir vorbei gegangen, nicht nur rein optisch betrachtet. Aber wenn ich die Zeit resümiere, bin ich wirklich zufrieden mit diesen Spuren.
Begonnen hat alles mit einer ungeplanten Schwangerschaft zu einem wohl ziemlich ungünstigen Zeitpunkt.
Ich war in der Probezeit, beschäftigt bei einem Dienstleister im Vertriebsinnendienst und mein Job war knallharte Kaltakquise. Sehr schnell stellte ich fest, dass das nichts für mich ist. Aber mit der Einsicht kam der positive Schwangerschaftstest und mit diesem zarten, kaum erkennbaren, zweiten Streifen auf diesem verflixten Stück angepinkelten Plastik auch der feste Wille dieses Kind zu bekommen. Obwohl mein Leben bis zu diesem Hauch von Streifen keine Kinder in der Lebensplanung vorgesehen hatte. Mit dem Wissen, dass da ein zweites Herzchen in meiner Brust schlägt, wuchs einfach nur noch die Angst es wieder zu verlieren.
Ich informierte mich bei meinem Frauenarzt über Vorsorgemaßnahmen und erfuhr von der Nackenfaltenmessung, dem Organultraschall um die 22. Schwangerschaftswoche herum und noch ein bisschen Fachgeplänkel, das ich sofort wieder vergaß.
Und ich weiß noch wie Herr Sonnenschein nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub einen Zwischenstop in der Aachener Uniklinik einlegen musste, weil ich tierische Unterleibsschmerzen hatte (wahrscheinlich die üblichen Dehnungsschmerzen und eben die lange Fahrt aus Südfrankreich nach Hause). Man versicherte mir, dass alles in Ordnung sei und riet mir aber dennoch meinen Frauenarzt aufzusuchen, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich weiß noch wie unruhig ich damals war und dass auf dem Ultraschallbild, das man bei der Untersuchung gemacht hatte, etwas mit Kulli eingekreist war.
Mein beruflicher Stress sorgte dafür, dass ich keinen expliziten Termin für die Nackenfaltenmessung vereinbarte. Außerdem war mein Frauenarzt ohnehin im Urlaub und mit der schroffen Vertretungsärztin wurde ich nicht warm. Auch sie riet mir nochmal einen Termin bei meinem Frauenarzt zu machen, wenn er wieder zurück sei.
Mein Frauenarzt hat die tolle Gabe Witze zu reißen, wenn die Alarmglocken schon laut sirren. Mittlerweile bin ich lange genug bei ihm in Behandlung, um das zu wissen. Aber damals war auch für mich wirklich alles in Ordnung, wenn er sagte, dass alles in Ordnung sei.
Vier Tage vor dem Termin zur Feindiagnostik wurde ich kurz vor Feierabend zu meinem Chef ins Büro zitiert und mir wurde mitgeteilt, dass dies mein letzter Arbeitstag sei und ich nun gehen dürfe.
Damals ließ sich meine Murmel nicht mehr leugnen und selbst wenn, war ich ein hoffnungsloser Fall auf dem Arbeitsmarkt (obwohl mein zuständiger Sachbearbeiter im Jobcenter mir dennoch 10 Bewerbungen im Monat auferlegte und für mich große Chancen zur Weihnachtszeit im Einzelhandel sah. Hochschwanger). Der 23. September 2008, es riss mir den Boden unter den Füßen weg. Und auch wenn ein Teil von mir erleichtert war, dass ich dort nicht mehr hin musste, riss es ein riesengroßes Loch in mein Ego. In meinen bisherigen Jobs schätzte man meine Arbeitskraft sehr und da war ich diejenige, die das Arbeitsverhältnis aufkündigte. Nun war die Sachlage anders. Ich war arbeitslos und zudem auch noch ziemlich schwanger.
Ich weiß nicht wie viele Tränen ich in den nächsten Wochen vergossen habe, aber hätte mir auf jeden Fall nicht träumen lassen, dass mit Soneas Geburt noch so viele mehr folgen sollten.
Der Organultraschall, oder auch Feindiagnostik, folgte und war Balsam nach diesen furchtbaren Tagen und albtraumgeplagten Nächten. Die Chefärztin schallte fast eine Stunde lang und es war so ein lustiger und schöner Termin. Wir erfuhren, dass wir ein Mädchen erwarten würden und sahen über den Monitor wie sie vergnügt am Daumen nuckelte und headbangte. Sie war damals schon eine wilde Hilde.
Nach der Untersuchung wurde die Ärztin einmal kurz ernst und sagte „Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Ihre Tochter hat einen White Spot. Das ist ein weißer Fleck im Herzen und medizinisch nicht weiter bedenklich. ABER es ist auch ein Softmarker für das Down-Syndrom. Allerdings habe ich alles ausführlich geschallt und es gibt sonst überhaupt keine Anzeichen für ein Down Syndrom und mit Ihren 28 Jahren sind Sie zudem weit von der Risikogruppe entfernt“. Der ersten Euphorie wich ein wenig Betroffenheit und Nervosität. Die Ärztin klärte uns weiter auf über die Risiken einer Fruchtwasseruntersuchung, mit der man 99%ige Gewissheit bekommen könne und sagte weiter „… aber das Risiko, dass während der Fruchtwasseruntersuchung irgendwas schief läuft, ist viel größer als das Risiko, dass SIE ein Kind mit Down Syndrom bekommen und ich kann Sie nur bitten – machen Sie keine Fruchtwasseruntersuchung. Ich gebe Ihnen die Hand darauf – dieses Kind hat KEIN Down-Syndrom“.
Mein Frauenarzt, tiefenentspannt wie eh und je, winkte den White Spot anschließend lapidar ab „Die hat es aber im Moment auch mit ihrem White Spot. Schauen Sie sich mal den Hinterkopf an. So sieht kein Mongölchen aus!“ und hielt mir ein Ultraschallbild unter die Nase, auf dem mein wunderschönes Mädchen mit einem wohl proportionierten Hinterkopf und einer süßen Stupsnase zu sehen war.
Die folgenden Wochen waren geprägt von Albträumen von meinem Ex-Arbeitgeber und Ängsten, dass etwas mit Sonea nicht stimmen könnte. Obwohl ich auf die Aussagen der Ärzte vertraute, war stets diese Angst da. Vielleicht war es auch eine gewisse Vorahnung, oder mütterliche Intuition.
Um die 29. Schwangerschaftswoche sollte ich noch einmal zu einer Doppler-Untersuchung ins Krankenhaus kommen, da meine Plazenta auf einer Seite nicht richtig durchblutet war. Zu diesem Termin wollte ich auch ein 3D-Ultraschall machen lassen. Beim ersten Kind gönnt man sich diesen Spaß noch…
Wie das Leben es wollte, konnte Herr Sonnenschein sich nicht frei nehmen und meine Mutter, die mich eigentlich zu diesem Termin begleiten wollte, wurde krank. Fast hätte ich den Termin abgesagt, aber am Ende ging ich alleine.
Die Ärztin war diesmal sehr ernst und bei weitem nicht so gesprächig wie bei der letzten Untersuchung. Ich merkte, dass ich unruhig wurde, freute mich aber über die vielen tollen 3D-Bilder, die ich von meiner zauberhaften Tochter zu sehen bekam.
Ich weiß noch, dass ich recht lange im Wartebereich auf meine CD mit den Videos und Ultraschallbildern wartete und erinnere mich noch genau an dieses unruhige Gefühl, die Tränen, gegen die ich ankämpfte und mich gleichzeitig irritiert fragte warum ich gerade so eine Angst habe. Eine fremde, aber sehr freundliche Ärztin kam aus dem Behandlungszimmer und fragte mich „Ist das Ihre Tochter da drinnen auf dem Monitor?“. Ich nickte zögernd und stumm und sie lächelte mich an und sagte „Sie ist wunderschön!“. Mit diesen Worten waren meine Tränen erst einmal versiegelt. An der Bahnhaltestelle packte mich wenige Minuten später wieder diese Unruhe und ich weiß noch, dass ich irgendwen sprechen musste, meinen Vater anrief und erstmal losheulte.
Ich sagte, dass es mir leid täte, dass ich heulen muss, dass das sicherlich nur die Hormone seien und ich gerade seine Enkelin in 3D gesehen habe. Und – dass alles in Ordnung sei. Ich glaube, ich musste es mich einfach nur selbst sagen hören, um es irgendwie zu glauben.
Herr Sonnenschein und ich heirateten hochschwanger und auf dem letzten Drücker sozusagen. Ich dachte einfach nur, dass nun alles nur noch gut wird und ich in den letzten Monaten genug Mist erlebt habe…
Immer wieder werde ich gefragt wie ich mich entschieden hätte, wenn ich während meiner Schwangerschaft von Soneas Down-Syndrom erfahren hätte. Oder zumindest mit Gewissheit. Früher rechtfertigte ich mich ungefragt dafür, dass wir sämtliche Vorsorgeuntersuchungen gemacht haben und es trotzdem unerkannt geblieben ist.
Ich kann diese Frage nicht beantworten, weiß aber, dass sich zahlreiche Paare während ihrer Schwangerschaft mit dieser Frage auseinander setzen müssen und laut Statistik in den meisten Fällen dagegen entscheiden. Verurteile diese Entscheidung aber nicht. Denn es ist nicht meine.
Für mich wäre es heute noch unvorstellbar gewesen dieses kleine Würmchen, ein fertiger Mensch, der nur noch wachsen muss, in der 22. Woche abzutreiben.
Allerdings standen die Zeichen um meine Schwangerschaft herum nicht gerade gut. Ich hatte keine Perspektive, keinen Job, in den ich nach meiner Elternzeit zurückkehren würde, kein gemachtes Nest.
Aber ich hatte den festen Willen dieses Kind zu bekommen und was man will, das schafft man auch!
Die Entscheidung für ein behindertes Kind ist eine, die ich glücklicher Weise nie treffen musste und ich stelle sie mir unglaublich hart vor. Man steht vor allem nicht alleine mit dieser Entscheidung. Es ist als entscheiden sämtliche Leute über Deinen Bauch hinweg. Ärzte, die sich ganz klar positionieren, Familienangehörige für die ein behindertes Familienmitglied untragbar ist, die eigenen Stimmen im Kopf, das Herz, der Verstand. Und nicht zuletzt der Partner.
Ich freue mich wahnsinnig auf einen Film von der Regisseurin Anne Zohra Berrached, der sich genau mit dieser Thematik auseinandersetzt und das auf unbarmherzig ehrliche Art und Weise.
24 Wochen läuft ab dem 22. September in den deutschen Kinos und ich finde diesen Filmbeitrag enorm wichtig.
Solltet Ihr Euch einen Abend von den Kindern freischaufeln können, geht ins Kino und schaut Euch 24 Wochen an.
Dieser Filmtipp ist übrigens meine freie Entscheidung und ich teile ihn, weil ich Ihn sehr wichtig finde und Euch einfach ans Herz legen möchte. Vielleicht werde ich nach meinem eigenen Besuch noch einmal darüber berichten, denn bislang kenne ich selbst nur den Trailer und ein paar Kritiken.
Fotos: weidesign
Schnitt: ZOÈ von Rosa P. für lillestoff (ab Samstag erhältlich)
Stoff: Charlotta purple von enemenemeins (leider ausverkauft)