Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #124 Heute vor 7 Jahren…

Achtung Triggerwarnung. Auf Wunsch einer Leserin füge ich diesen Hinweis in dieser Reihe bei Bedarf hinzu. Es folgt ein sehr bewegender Beitrag einer Leserin, die ihren Sohn vor ziemlich genau 7 Jahren verloren hat. Vielen Dank an dieser Stelle für Deinen Mut und Dein Vertrauen hier Deine Geschichte zu erzählen. 

„Heute vor 7 Jahren…“ oder „Heute vor 7 Jahren um x Uhr“… heute, in diesem Jahr, ist es irgendwie einfacher. Leichter. Weniger heftig. Weniger luftabschnürend.

Es tut verdammt weh.

Aber jedes Jahr ist es ein wenig leichter durchzustehen. Ich habe gelernt, damit umzugehen, den Schmerz nur in kleinen Portionen an mich zu lassen. Tag für Tag.

Es war der 19.10.2011, und ich hatte meinen üblichen und normalen Frauenartzttermin der 24. Woche um 8:00 Uhr damit mein, damals noch Freund, nun Mann dabei sein konnte.

Irgendwann um 9 Uhr was auch immer wurden wir ziemlich wortlos in die Klinik geschickt, für weitere Diagnostik, da irgendwie was nicht ganz stimmen würde.

Um 11 Uhr was auch immer war klar, dass eine Plazentainsuffizienz vorlag.

Um 13 Uhr was auch immer hatten wir alle Optionen gehört, viele waren es nicht und aussichtslos waren alle.

Um 15 Uhr was auch immer hatten wir erneut ein Gespräch mit wahrscheinlich zehn hochrangigen Weißkitteln.

Um 17 Uhr was auch immer waren wir Zuhause.

Die nächsten Tage vergingen wie in Trance. Was macht man, wenn man weiß, dass das Kind im Bauch jederzeit versterben kann? Wir hatten 12 Tage des Kuschelns, des Redens, des intensiven Spürens und des Liebe gebens.

Ich hatte so oft in diesen Tagen den Impuls, jetzt sofort in die Klinik zu fahren und jetzt sofort einen Kaiserschnitt machen zu lassen, meinen Sohn im Arm zu halten, ihn „zu retten“. Die Chance, dass er den Kaiserschnitt überleben würde, lag immerhin bei einem Prozent, hatten die Ärzte gesagt.

Ich hatte so oft in diesen Tagen den Impuls, davon zu rennen. Aus meinem Leben, aus meinem Körper zu fliehen. Nur wohin?

Wir haben ihm Liebe gegeben, haben die Liebe gespürt, die er uns gab, wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben, wir drei. Und so kam es, dass unser Sohn Fynn starb, am 31.10., an Halloween, etwa gegen 19:23 Uhr, zwanzig Minuten bevor die ersten und einzigen Kinder an der Tür für Süßigkeiten klingelten. Vielleicht klingt es esoterische, aber ich habe gespürt, wie er sich verabschiedet hat, uns seine Liebe gegeben hat.

Am nächsten Morgen sind wir in die Klinik zur Einleitung. Ich habe unter Wehen und sehr vielen Schmerzmitteln ein Kamel neben mir stehen sehen. obwohl, es war wohl ein Dromedar. Es stand neben mir, zwischen Bett und Schrank, und ich fragte mich nicht, warum es da stand, sondern wie es da rückwärts einparken konnte. An viel mehr erinnere ich mich nicht von diesen zwei Tagen.

Am 2.11. um 10:45 hielt ich plötzlich meinen Sohn in den Händen, ich war doch gar nicht bereit dazu. Er war viel zu winzig und viel zu hübsch. Er sah genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. 10 Minuten später lag ich im OP, die Plazenta, dieses… Ding, löste sich nicht. Vielleicht war ich am Verbluten, vielleicht war es auch nur halb so schlimm, egal. mir war alles egal. Ein Pfleger im Aufwachraum beglückwünschte mich und fragte mich, als ich langsam wach wurde, wie es meinem Baby ginge. „Es ist gestorben.“ Er verließ kreidebleich den Raum. Ich würde mich gerne bei diesem Pfleger entschuldigen.

Das ist das erste, woran ich jedes Jahr am 2.11. denken muss, an diesen Mann.

Es war der 19.10.2018 und ich saß im Mitarbeitergespräch, es war kurz nach 11 Uhr und es platzte einfach so heraus. „Heute ist der Tag, an dem wir erfahren haben, dass unser Sohn sterben würde.“

Bei meiner Arbeit habe ich tagtäglich mit behinderten und sterbenden Kindern zu tun. Ich sehe, nicht tagtäglich, was hätte sein können, wenn. Dieses eine Prozent. Obwohl, diese, „meine“ Kinder hatten bessere Chancen, waren größer, waren kräftiger. Und ich bin dankbar, unseren Weg gewählt zu haben. Mittlerweile.

Nach sieben Jahren blicke ich nicht mehr auf all die schrecklichen Dinge zurück, minutengenau. Ich denke an die Ultraschallunterschuchungen, die es uns ermöglicht haben, unseren Sohn zu sehen. Ich denke an die (kurzen weil kraftlosen) Spaziergänge an tatsächlich schönen Herbsttagen. Ich sehe das bunte Laub mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich hasse den Herbst. Das Laub fiel, als wir es erfuhren und das Laub war 12 Tage später gefallen. Aber wenn die Nachmittagssonne durch tanzende Blätter blitzt, überfällt mich eine innere Ruhe, die sehr selten spüre. Ich denke daran, meinen Sohn gehalten zu haben, seine Hände zu erforschen, Ähnlichkeiten zu Mama und Papa zu suchen, denn wir waren ja Eltern. Die großen Papafüße, die knubbeligen Mamahände. Seine winzige Nase, seine schlafenden Augen, die ich jetzt jeden Tag bei unserer Tochter sehen darf. Seine große kleine Schwester.

Natürlich weiß sie von ihm, manchmal vermisst sie ihn, denkt sich, was wäre wenn. Ein Ultraschallbild hängt in unserem Wohnzimmer, wir haben uns dagegen entschieden, ihn zu fotografieren. Wir zünden jeden Abend eine Kerze für ihn an.

Jedes Jahr am 31.10. nehmen wir uns frei, Zeit nur für uns als Familie. Der Todestag ist für uns mehr ein Geburtstag als der Tag seiner Geburt. Der Tag, als er ein Sternenkind wurde. Erst im letzten Jahr waren wir zum ersten Mal am Grab. Ich bin froh, dass Fynn mit vielen anderen Sternenkindern gemeinsam begraben wurde. Dieser Erdenplatz bedeutet mir wenig. Aber es war überwältigend, zu sehen, wie viele andere Kinder dort bei ihm sind, all die Liebe der Eltern zu sehen, Windräder, Kuscheltiere, Blumen und Kerzen. Es war wunderschön dort.

Jedes Jahr am 31.10. ist auch Halloween. Wir gehen mit seiner kleinen Schwester natürlich auch von Tür zu Tür, denn: Verkleidung und Süßigkeiten! Was gibt es besseres? Dieses Jahr sind wir zum zweiten Mal zu einer Party eingeladen, und ich denke, wir werden die Einladung diesmal annehmen. Unsere Freunde wissen natürlich Bescheid, und es ist schön, offen über alles reden zu können.

Und vielleicht dekoriere ich sogar in der Wohnung etwas?


Mehr über die Autorin erfahrt Ihr auf Instagram unter @zusselmama

1 Kommentare

  1. Was für ein bewegender Eintrag…. vielen Dank, dass Du diese Geschichte mit uns teilst! Ich wünsche Euch alles Gute und werde am 31.10. an Euch denken.

Kommentare sind geschlossen.