Raul Krauthausen ist bekannt als Aktivist, der sich für viele soziale Projekte einsetzt und vor allem, wenn es um Themen wie Barrierefreiheit, Inklusion oder allgemein um die Belange von Menschen mit Behinderung geht, ist Raul ein beliebter Ansprechpartner. Denn Raul ist nicht nur unglaublich sympathisch, sondern lebt selbst mit der Glasknochenkrankheit.
Ich folge Raul schon lange mit großer Begeisterung und bin immer wieder sehr beeindruckt von den großartigen Projekten, die er auf die Beine stellt, wie zum Beispiel den Verein Sozialhelden, den er zusammen mit seinem Cousin gegründet hat. Oder aber sein Buch Dachdecker wollte ich eh nicht werden: das Leben aus der Rollstuhlperspektive. Und die 3D-druckbare Mini-Rampe, die er im vergangenen Jahr entwarf.
Neben all seinen Projekten und seinem sozialen Engagement, interessierte es mich aber vor allem einmal zu erfahren – wie war das so in seiner Kindheit, als Raul so alt war, wie Sonea jetzt. Und ich freue mich wirklich sehr, dass Raul ohne zu zögern einem Interview mit mir zusagte. Here you are!
Du bist allgemein bekannt als Aktivist, der sich für behinderte Menschen einsetzt. Ich folge Dir selbst mit großer Begeisterung auf Facebook und bin ein Fan von Deinen Aktionen. Ich habe selbst eine behinderte Tochter und mich interessiert natürlich nicht nur Deine Arbeit, sondern vor allem auch die Person, die dahinter steckt.
Für uns war und ist noch die Einschulung ein ganz großes Thema. Ein Kind mit Behinderung inklusiv zu beschulen, ist immer noch keine Selbstverständlichkeit und stellt einen vor vielen, neuen Herausforderungen.
Mich würde vor allem interessieren, wie Dein Leben mit dem Besonderen in der Kindheit war.
Ach, ich glaube so wirklich “besonders” habe ich mich als Kind nicht gefühlt. Ich bin als kleines Kind viel auf dem Boden rumgerobbt, so wie meine Freunde auch. Irgendwann, ich glaube mit fünf oder sechs, bekam ich meinen ersten Rollstuhl. Das war ungewohnt und ich erinnere mich noch, wie ich plötzlich in Räumen größere Distanzen zurücklegen konnte – eine tolle Erfahrung. Damals erlebte ich meinen Rollstuhl – bis heute – also als etwas sehr Positives, Befreiendes. Ab da war mir klar, dass ich mein Leben lang im Rollstuhl sitzen würde.
Dass ich mir ab und an etwas brechen kann, habe ich natürlich schon früher erlebt. Das war dann sehr schmerzhaft und oft ich empfand es als ungerecht – denn es passierte ja bei den alltäglichsten Dingen.
Aber im Grunde war ich eben einfach ein Kind.
Ich war schon immer ein lebensfroher Mensch und fast immer gut gelaunt. Meine Mutter nannte mich “Stehaufmännchen”. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich in einem guten, mich stärkenden Umfeld aufwuchs: Meine Familie, der integrative Kindergarten und die integrativen Schulen.
Ich habe immer gute Freunde gehabt und war nie Opfer von Mobbing oder Hänseleien. Im Gegenteil, ich war selber auch nicht immer nur ein Engel.
Wie hast Du die Umwelt wahr genommen?
Ich war schon immer sehr neugierig, wollte überall dabei sein und ich glaube, da wo es ging, war ich es auch.
Die “Erwachsenen” und auch meine Freunde haben immer versucht, es mit mir möglich zu machen.
Meine Familie hat nie gesagt “das geht nicht”, sondern immer “das kriegen wir schon hin”. Und so war ich auch schon in einer Trage auf dem Rücken meiner Eltern auf dem Machu Picchu in Peru.
Und wie haben Dich andere wahr genommen?
Ich glaube dass meine Freunde mich als Freund wahrgenommen haben. Ich war gar nicht so der Exot, wie man vielleicht glauben mag.
Als Kind haben mich die Blicke der Menschen auf der Straße aber schon genervt, erst mit zunehmendem Alter habe ich das einigermaßen ausgeblendet.
Heute bin ich privat und beruflich viel unterwegs. Ich liebe es in Cafés Freunde zu treffen, gehe gerne ins Kino und auf Parties und sitze oft in der Bahn auf dem Weg zu Vorträgen – und werde mit zunehmendem Bekanntheitsgrad oft von Fremden angesprochen, die mir unter anderem auch mal sehr private Fragen zu meiner Behinderung stellen. Das ist wirklich eine Gratwanderung: Zum einen habe ich ganz klar ein Bedürfnis nach Privatsphäre – ganz besonders wenn ich in dem Moment nicht alleine unterwegs bin – andererseits erlebe ich hier auch oft ein Bedürfnis von Menschen, die in ihrem Leben keinen oder wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben, mehr zu dem Thema zu erfahren.
Und ganz ehrlich: Wenn ich einen Menschen mit einer Behinderung kennenlerne, die ich so noch nicht kenne, kommen mir auch alle möglichen Fragen in den Kopf.
Ich habe einen Artikel geschrieben als Hilfestellung für Eltern, die nicht wissen, wie sie das Thema Behinderung mit ihren Kindern besprechen oder behandeln sollen: 10 Dinge, die alle Eltern ihren Kindern über Behinderungen beibringen sollten
Wie war Dein Kindergarten- und Schulbesuch geregelt?
Ich bin mit drei Jahren in den Kindergarten gekommen: Das Kinderhaus Friedenau in Berlin. Damals gab es die Regelung, dass Kinder mit Behinderung ca. ein Jahr älter sein sollten, als die nicht-behinderten Kinder. So ergab es sich, dass ich immer der Älteste in meiner Schullaufbahn war. Die Kindergartengruppe wechselte fast geschlossen auf die Fläming Grundschule – ich auch. Und später ging ich dann mit einigen Grundschülern ab der 7. Klasse auf die Sophie-Scholl-Schule in Schöneberg. Beide Schulen sind Integrationsschulen.
Da meine Eltern berufstätig sind, bin ich nach dem Unterricht in den Schülerladen gegangen. Die Erzieher holten uns Kinder von der Schule ab.
Da meine Mutter später dann mit mir nach Lichterfelde zog, hatte ich leider oft einen sehr umständlichen Weg zur Schule. Ich wurde um 7 Uhr morgens von einem Fahrdienst abgeholt und fuhr fast eine Stunde durch die Stadt um zur Schule zu kommen. Manchmal holten wir noch andere Kinder ab und so verbrachte ich jeden Tag hin und zurück ca. 2 Stunden in Bussen. Das habe ich sehr gehasst.
Wie hast Du Deine Kindergartenzeit und später Deine Schulzeit erlebt?
Wenn ich an die Kindergarten- und Schulzeit denke – dann kommt mir in erster Linie die schöne Zeit mit meinen Freunden in den Sinn. Und die Flausen, die wir im Kopf hatten und den Spaß, den wir teilten.
Entgegen manchen Klischee-Ideen von Menschen, die auf mich treffen und mich nicht kennen, war ich kein überfleißiger, superschlauer Stephen-Hawking-artiger Schüler – sondern eher Durchschnitt. Manchmal war ich sogar ziemlich faul beim Lernen – und einmal habe ich sogar meine Behinderung als Entschuldigung benutzt:
Wir hatten eine Englischlehrerin, die sehr nah am Wasser gebaut war. In der siebten oder achten Klasse sollten wir in einer Klassenarbeit einen Brief an einen imaginären Brieffreund schreiben. Ich schrieb eine sehr traurige Geschichte: Dass ich wegen meiner Behinderung keine Freunde hätte usw… Ich habe kalkuliert, dass sie mir für diese Geschichte eine gute Note geben würde. Sie gab mir eine Eins. Sie war sehr stolz auf meinen Mut und weinte. Die Geschichte war allerdings erfunden und meine Mutter am nächsten Tag stinksauer, dass ich meine Behinderung ausgenutzt habe. Ich habe meine Behinderung nie wieder in so einer Weise “ausgenutzt” – es blieb aber auch meine einzige Eins in der Schule 😉
Es gab eine Zeit, in der wollte ich die Schule sogar mal abbrechen – und so kam es zu dem Ausspruch meiner Mutter, der dann den Titel meines Buches anregte: “Naja, Junge, aber Dachdecker kannst du auch nicht werden!”
Ich habe dann weiter gemacht und mein Abi habe ich mit der Note 2,9 geschafft.
Mit welchen Hürden hattest Du und auch Deine Eltern zu kämpfen?
Das weiß ich gar nicht so genau.
Meine Eltern waren sehr jung, als ich auf die Welt kam – vielleicht war das auch ganz gut so, denn sie waren nicht so verkopft und befürchteten nicht, dass ihr Leben sich nun komplett ändern und all’ ihre Lebensplanungen hinüber wären.
Stattdessen ging es nie um das “ob” – sondern das “wie”: Also WIE man etwas schaffen kann, dass man sich vornimmt.
Der größte Schritt war wohl, dass meine Eltern von Peru nach Deutschland zogen – weil hier die medizinischen und schulischen Möglichkeiten für mich besser waren.
Und für meine Eltern war es auch immer klar, dass sie ihr Leben nicht mit der Pflege von mir verbringen würden – sondern ich ein selbständiger Mensch mit eigener Lebensplanung, Beruf usw. würde. Ein Wohnheim, eine Behindertenwerkstatt und ähnliches wäre für sie nie in Frage gekommen.
Und ehrlich gesagt half mir das auch sehr beim selbständig werden.
Meine Eltern haben ihre eigenen Lebenspläne tatsächlich verwirklicht, meine Mutter studierte Medizin und wurde Ärztin – als alleinerziehende Mutter eines behinderten Kindes.
Mein Vater ist Schriftsteller und arbeitet an seinem Lebenstraum nach Peru zurückzukehren und sich dort etwas aufzubauen.
Das ist ganz sicher etwas, das sehr wichtig ist: Dass man sich als Eltern nicht selbst aufgibt.
Sein Kind an die Hand nimmt, ihm Perspektiven eröffnet, die Möglichkeiten ausschöpft – und hier ist leider auch heute oftmals noch mehr Kampf nötig als notwendig sein sollte. Sich nicht schämt Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Aber auch irgendwann loslassen kann. Denn wie jedes Kind hat auch ein Kind mit Behinderung ein Recht auf ein eigenes Leben.
Wie haben Dich die anderen Kinder wahr genommen?
Wir waren einfach Freunde und haben immer füreinander eingestanden. Ich glaube das lag daran, dass wir einfach schon seit dem Kleinkindalter gemeinsam in einer Gruppe waren.
Je älter ich wurde, desto größer wurde natürlich auch der körperliche Abstand. D.h. ich blieb klein und konnte immer weniger mitmachen. Sport, Kuschelparties usw. Ich wurde nicht explizit ausgeladen oder so, aber es war natürlich auch nicht immer selbstverständlich dass man mich einlädt.
Natürlich gab es Momente, in denen das sehr weh tat. Ich habe dann nach Alternativen für mich gesucht, begann ich mich für Computer zu interessieren und lernte darüber weitere Freunde mit ähnlichen Interessen kennen. z.B. in der Informatik AG.
Waren sie verständnisvoll und hilfsbereit?
Ja, immer. Es war ein Geben und Nehmen. So hab ich im Gegenzug auch Andere von meinen Hausaufgaben abschreiben lassen 😉
Haben sie Dich völlig normal behandelt oder warst Du Außenseiter?
Das klingt jetzt kitschig, aber ich glaube ich war nie wirklich der Außenseiter. Meine besten Freunde aus der Kindergartenzeit sind auch heute noch meine besten Freunde. Sie wussten schon mit 12 Jahren, was zu tun ist, wenn ich mir was gebrochen habe.
Im Moment stehen bei uns Geschwisterrivalitäten auf der Tagesordnung. Soneas Bruder, der drei Jahre jünger ist als sie, macht gerade einen großen Entwicklungsschub und das frustet Sonea sehr, da ihm vieles leichter fällt und er schneller lernt als sie. Hast Du Geschwister?
Leider habe ich keine Geschwister.
Ich kann aber sagen, dass ich bei den Kindern meiner Ex-Freundin, die beide keine Behinderung haben, durchaus ähnliches erlebe.
Die Beiden sind so verschieden und haben so unterschiedliche Talente – da gibt es auch öfters Neid, dass der*die andere etwas viel schneller und besser kann.
Wenn ja, wie war Euer Verhältnis in der Kindheit und wie ist es heute?
Ich bin zwar ein verwöhntes Einzelkind, aber ich habe fast jede Schulferien mit meinen Cousins verbracht. Wir wuchsen quasi wie Brüder auf. Das war großartig. Sie sind sehr sportlich und wenn wir uns sahen, haben wir Baumhäuser oder Zelte gebaut, oder schlechte Filme in unserem Ferienhaus in Holland gedreht.
Mit meinem ältesten Cousin habe ich dann 2004 die SOZIALHELDEN gegründet. Wir sind halt irgendwie immernoch wie Brüder 😉
Ich schrieb mal einen Artikel darüber, was ich meinem jüngeren Ich aus der heutigen Perspektive gerne sagen würde – das würde ich diesem Interview noch gerne hinzufügen: Zurück in die Zukunft.
Danke, Liebe Katharina, für dieses Interview! Mich hat Dein Blog-Artikel “Merkt SIE eigentlich, dass sie anders ist?” sehr berührt und ich bin gespannt, wie eure und Soneas Lebensreise weitergeht!
Vielen dank für dieses tolle Interview.
LG Roksana
Hallo, ich finde es sehr erweiternd, diese Einblicke freitags auf Deinem Blog zu haben und auch wenn ich unmittelbar nicht betroffen, ich kenne niemanden mit einer Behinderung, die als solche gilt – andere Einschränkungen (auch Behinderungen) schon ;-))
Danke dafür! Ich lese es sehr gerne!