Das Telefon klingelt. Oh, die Nummer des Jugendamtes….die Frage, wie es uns geht nehme ich kaum wahr, denn die nächste Frage ist wesentlich interessanter. Haben wir Zeit ein Kind aufzunehmen? Die Informationen sind noch spärlich. Soweit unsere zuständige Sachbearbeiterin weiß, ist es dieses Mal ein Mädchen, vier Wochen alt. Wann und ob sie kommt, kann sie nicht sagen, der Allgemeine Soziale Dienst setzt sich in den nächsten Tagen mit uns in Verbindung.
Jetzt heißt es erstmal ruhig bleiben. Es ist nur eine Anfrage. Wer weiß, ob es überhaupt klappt. Trotzdem überlegt ein Teil meines Gehirns schon, ob wir genug Windeln haben, oder ob ich nicht ganz zufällig ohnehin in die Drogerie muss.
Wieder klingelt das Telefon. Diesmal der ASD. Kind – ja ein Mädchen und vier Wochen alt – ist zur Zeit wegen Mangelernährung in der Klinik und soll morgen in Obhut genommen und zu uns gebracht werden. Klappt das? Ich sage zu.
Kaum aufgelegt rufe ich meinen Mann an. Vorsichtig erzähle ich ihm von der jungen Dame. Auch er ist der Meinung, unseren Kindern erstmal nichts zu sagen, wir werden abends lediglich Bettchen und wickelkommode aufstellen, den Rest kann ich am nächsten Vormittag erledigen.
Die Nacht ist ein wenig unruhig. Kommt sie, kommt sie nicht? Habe ich alles oder muss ich morgen einkaufen? Und jetzt schlaf endlich, wer weiß, wie die Nächte werden….
Ich weiß, die Sachbearbeiterinnen wollen um halb zehn in der Klinik sein. Wie lange dauert eine inobhutnahme? Während ich alles vorbereite, Wasser abkoche, Fläschchen Spüle wird es immer später. Jetzt kommt sie sicher nicht. So lange dauert das doch nicht….um kurz nach zwölf ruft eine unbekannte Handynummer an. Es habe alles länger gedauert, die Polizei musste kommen, aber man würde jetzt mit dem Baby kommen.
Schnell ein Fläschchen warmgestellt, im Hintergrund habe ich sie schreien hören.
Kurz darauf klingelt es an der Tür. Zwei offensichtlich sehr gestresste Sachbearbeiterinnen haben ein völlig aufgelöstes, schwitzendes, schreiendes, rotes Baby in einem Autositz dabei. Es macht fast den Eindruck, als wären sie erleichtert, sie hier lassen zu können.
Ich spreche leise und ruhig mit dem aufgelösten Menschlein und nehme sie aus dem Sitz. Eine Welle unangenehmer Gerüche schlägt mir entgegen. Kalter Rauch, Urin, Stressschweiss und ungewaschene Wäsche. Wir versuchen eine Flasche zu trinken, was mehr schlecht als recht klappt und mit schrillem Schreien begleitetet wird. Sie zittert am ganzen Körper und eine frische Windel ist dringend nötig. Kurz überlege ich, die Kleider zu wechseln, es sieht irgendwie alles ungewaschen aus und riecht auch so (später werde ich erfahren, dass die leiblichen Eltern keine Waschmaschine haben und so nur das nötigste von Hand in der Badewanne gewaschen wird), entscheide mich dagegen. Sie ist ohnehin schon gestresst genug. Als ich die Windel wechseln will, muss ich kurz an mich halten. Offene Hautstellen, ein windelpilz von hier bis Timbuktu und überall raue, schuppige Haut. Am schlimmsten ist es in den Hautfalten. Hinter den Ohren klebt eine streng riechende dicke Schicht. Wie kann das sein? Zumal sie drei Tage stationär aufgenommen war…
Sie schläft auf meinem Arm ein, unruhig schläft sie und ich habe die Muße sie genau zu betrachten. Dünn ist sie, sehr dünn und klein. Spärlicher Haarwuchs unter dem eine dicke Schicht Milchschorf sitzt. Die Fingerchen sind sehr zart und auf dem Handrücken prangt ein riesiger blauer Fleck – sicher vom Blut abnehmen. Keine pausbäckchen und spindeldürre Beinchen. Der rosa Pulli, den sie trägt, ist an den Bündchen abgestoßen und ziemlich schmuddelig. Und trotzdem – oder gerade deshalb – wandert sie direkt in mein Herz und meine Seele und macht es sich dort gemütlich.
Am Nachmittag kommt mein Mann und wir beschließen sie einmal ganz kurz zu baden und in frische Kleidung zu stecken. Beide müssen wir blinzeln, als wir sie das erste mal ohne Kleidung sehen.
Die ersten Tage und Nächte sind hart. Wir wissen nicht, dass sie einen Nikotin Entzug durchmacht. Auch passives Rauchen kann zur Abhängigkeit führen. Sie zittert und krampft. Die bisherige Familienhebamme aus der Herkunftsfamilie kommt weiterhin zu uns und sagt auch, dass wir da alle durch müssen. Einzig die Federwiege scheint zu helfen.
So gehen vierzehn Tage ins Land und so nach und nach bessert sich ihr Zustand. Die Flasche kann sie jetzt – auch Dank eines anderen Systems – in Ruhe trinken und nicht mehr hastig wegpumpen. Wir cremen jeden Tag mehrfach den kleinen Körper ein und so langsam sieht die Haut mehr nach Babyhaut als nach einem alten Reibeisen aus. Sie wird insgesamt ruhiger und ist interessierter an ihrer Umwelt. Wir haben die ersten Arztbesuche hinter uns, sie bekommt Physiotherapie, wird kardiologisch durchgecheckt und irgendwann steht der Fetale Alkohol Syndrom (FAS) Verdacht im Raum.
Auch die ersten Umgänge mit den leiblichen Eltern finden begleitet statt, anfänglich kommt sogar noch zusätzlich ein Sachbearbeiter mit, da niemand das eventuelle Aggressionspotential der Eltern abschätzen kann und mag. Die Eltern, die im Alter meiner älteren leiblichen Kinder sind, lösen sehr zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits kann ich kaum nachvollziehen, was alles bei ihnen schief geht, warum sie es nicht schaffen, einmal pro Woche für eine Stunde zu kommen, andererseits habe ich das Gefühl sie an die Hand nehmen zu wollen; frei nach dem Motto: Mutti zeigt euch das mal.
Stand anfänglich die Idee im Raum, das Baby könne zurück zu den leiblichen Eltern, stellt sich doch immer mehr heraus, dass das einfach aus den verschiedensten Gründen nicht funktionieren kann und die Tendenz geht immer mehr in Richtung Dauerpflege.
Inzwischen ist sie nun seit einem halben Jahr bei uns. Wir haben gesehen, wie sie sich von einem Säugling zu einem kleinen Krabbelkind entwickelt, welches das ganze Haus erobert. Sie kann sitzen, vom Löffel essen, sich wunderbar alleine beschäftigen und freut sich, wenn unsere Kinder hier sind. Sie ist meistens sehr fröhlich und immer noch sehr klein und zierlich. Ziemlich schnell hat sie es geschafft, uns alle um ihren winzig kleinen Finger zu wickeln. Unsere Kinder nennen sie liebevoll „SAZ“ – Schwester auf Zeit. Wir haben viel miteinander erlebt. Weihnachten, Neujahr, Silvester, Geburtstage, Konzerte, musikalische Wettbewerbe, und sogar ein Abitur. Die FAS Diagnostik ist noch nicht gelaufen, wir warten noch auf einen Termin.
Seit drei Wochen kennen wir die Dauerpflegeeltern und ich weiß, sie wird in zwei Wochen umziehen. Es ist gut, dass sie jetzt eine neue Familie hat, bei der sie ankommen und bleiben kann. Natürlich haben wir immer mal wieder den Gedanken im Kopf, sie kann doch bleiben. Aber sind wir ehrlich, das ist niemandem gegenüber fair. Uns nicht, da wir auf Dauer etwas leisten müssen, das mit zunehmendem Alter nicht leichter wird. Ihr gegenüber nicht, denn sie braucht tolle Eltern, die sich darauf freuen, sie durch die ganzen Stationen des Kindseins zu begleiten (wenn ich nur an die Elternabende auf winzigen Stühlchen im Kindergarten denke), und die den zu erwartenden Therapiebedarf gut meistern können.
Und dann ist da auch noch das Paar, welches nun zu einer Familie werden kann.
Trotzdem ist es unglaublich schwer, sie gehen zu lassen. War sie doch eine ganze Weile eines unserer Kinder. Aber ich kann auch sehen, was wir wieder alles machen können, wenn sie umgezogen ist. Mal eben schnell einkaufen, ohne Windeln und co. zu packen. Einfach mal schlafen, ohne ein Ohr beim Kind zu haben, den Boden zu putzen und er bleibt Spuckefrei… und dann kommt das nächste Kind bestimmt.
Und während ich das schreibe, sitzt sie vor dem Klavier, freut sich an ihrem Spiegelbild und leckt sowohl das Klavier als auch die Klavierbank hingebungsvoll ab. Du wirst uns fehlen, kleine Maus….
So schön geschrieben…ich erkenne mich gerade wieder. Vielen Dank