Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #57 Wolfsohrenwildpower

„ Ich habe Ohren wie ein Wolf! Das ist meine Wild Power“

Das war der erste Satz, den der Pädaudiologe von unserem Sohn zu hören bekam.
In ganz normaler Gesprächslautstärke, obwohl er nervös war.

Wild Power… so nennen die beiden Hauptdarsteller in einer tollen Kinderfernsehserie die besonderen Eigenschaften von Tieren; in jeder Folge erforschen sie andere Tiere – und deren Wild Power.
So haben wir gelernt:  Wölfe besitzen ein sehr gut ausgeprägtes Gehör.  Und jaulen gerne! „AUUUUU“
Unser Sohn auch! Beides!

Dass er diese besondere „Fähigkeit“ hat haben wir Eltern eine ganze Weile gar nicht bemerkt.
Er ist unser erstes Kind und wir haben lange gedacht, dass Babys einfach schreckhaft sind und keine lauten Geräusche mögen.
Wir sind mit ihm einfach hineingewachsen und haben ihn immer genau richtig empfunden so wie er ist und dabei vielleicht auch ein bißchen den Blick für sein besonderes Gehör verloren. Vieles fällt uns erst im Nachhinein betrachtet auf.
Dass er sich hingegen gerne mit Tieren identifiziert wissen wir schon lange. 
Dass der Name seiner „Wild Power“ unter Medizinern nur halb so cool  HYPERAKUSIS* heißt, hat unser Kinderarzt uns gesagt, und nach mehreren Tests des Gehörs und der Hirnströme nun auch ein Pädaudiologe bestätigt.

[*Eine kurze Erklärung:

Hyperakusis zählt zu den auditiven Wahrnehmungsstörungen
durch eine Veränderung der zentralen Hörverarbeitung.
Vereinfacht ausgedrückt ist es eine Geräuschüberempfindlichkeit.
Akustische Signale werden im Gehirn nicht richtig bewertet, unabhängig vom Frequenzspektrum. Das bedeutet, dass gegenüber anderen Geräuschen im gleichen Frequenzspektrum nicht zwingend auch eine Überempfindlichkeit besteht.
Betroffene hören u.U. für Andere nicht existierende Geräusche wie Strom.
Alltäglichen Lärm (Verkehr, Haushalt,..) können sie nur schwer ertragen.
Es wird vermutet, dass wichtige und unwichtige Geräusche nicht voneinander unterschieden werden können. 

Die Ursachen und auch die Therapiemöglichkeiten sind nur wenig erforscht. 
Typischer Weise halten sich die Betroffenen häufig die Ohren zu, erschrecken übermäßig, verkriechen sich, oder beginnen selbst ganz laut zu werden, um das störende oder gar schmerzende Geräusch zu übertönen mit Geräuschen, die sie kontrollieren können.
B
ei lauten Geräuschen kann es zu Herzrasen, Schweißausbrüchen, sowie erhöhtem Blutruck kommen]

„Fähigkeit“ habe ich bewusst in Anführungsstriche gesetzt – unser junger Wolf sieht es glücklicherweise zweifelsfrei als solche – leider erleben wir aber auch die absurde Seite, dass diese Sache, die er besonders gut kann – hören –  negative Seiten im Alltag hat.

Denn so gerne er ein Wolf wäre, der im Wald lebt – er ist es nicht;
er lebt ein ganz normales Menschenleben, mit Alltagsgeräuschen, mit staubsaugenden und nähenden Eltern und einem kleinen, (normal) lauten Bruder.
Zu allem Überfluss in einer lauten, fröhlichen Stadt – die Kölner an sich sind nicht von leisem Naturell und Karneval beispielsweise für den Jungwolf eher eine Belastungsprobe, als eine tolle Tradition.
Genau wie Silvester.
Oder St. Martin.
Oder Kino.
Oder Indoorspielplätze.
Oder laute Kinder.
Bei Dingen, die andere Jungs total supercool und Kinder generell normal finden, zieht er sich zurück- manchmal ganz leise, meistens aber mit einem großen Ausbruch und Getöse, teilweise aggressiv  und zähnefletschend.
In der Panik, die Lärm bei ihm auslöst, vergisst er schnell alles um sich herum und wird laut, unfair, verletzend – und wehrt sich mit Händen und Füßen,  wenn man ihm dann falsch begegnet.

Um Situationen wie diesen zu entgehen, haben wir uns bisher einfach in unsere Höhle verzogen und die meisten Situationen einfach gemieden.
Karneval gibt’s nur im TV, Silvester nur mit Mütze über dem Kopf am Fenster,
Radio nur, wenn er nicht da ist, SanktMartinsSingen waren wir noch nie, den Fernseher haben wir aus dem Wohnzimmer entfernt.

Aber jetzt sind wir in einer Situation, die wir in dieser Form nicht beeinflussen können:
Der Jungwolf ist ein Schulkind! 

Und das konfrontiert uns täglich mit einer Reihe von Fragen.
Beim Kind beispielsweise:
Was, wenn die heute wieder die Tür so laut knallen?
Was, wenn ich zu spät auf die Uhr gucke und nicht rechtzeitig zum Gong die Ohren zuhalte?
Was, wenn heute wieder die Bälle durch die Turnhalle knallen?

Bei den Eltern:
Was, wenn die anderen Kinder merken, dass er sich ‚anders‘ verhält?
Was, wenn sie ihn auslachen? Was, wenn sie die Power gegen ihn verwenden?
Was, wenn er einen Weinanfall bekommt mitten in der Klasse, wegen einem ganz ’normalen‘ Geräusch?
Was, wenn die Lehrer denken er sei ein aggressives Kind?
Oder ein Desinteressiertes, obwohl er nur versucht die Geräusche zu ertragen?
Oder in eine Schublade gesteckt in die er nicht gehört?

Schublade? – Ja, Hyperakusis ist wenig erforscht und wird meist eher als Begleiterscheinung gesehen; bei organischen Innenohrproblemen oder bei Autismus, Asperger, ADHS, Hochsensibilität.

Letzteres passt auf unsere Situation, durch den Hinweis unser Sohn könnte Hochsensibel sein, sind wir überhaupt erst auf über Hyperakusis gestolpert.
Je mehr wir uns damit auseinandersetzen, desto eher meinen wir aber, dass seine Sensibilität eher eine Begleiterscheinung der Hyperakusis ist, als andersherum.
Wer würde nicht dünnhäutig sein, bei Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren, Schmerzen wenn um ihn herum alles IMMER zu laut ist?

Und in der Schule ist es besonders laut.
Die anderen Kinder in der Klasse reden. Sie holen Wasser zum trinken.
Sie bewegen sich, spitzen ihre Stifte und sind eben Kinder.
Die Kreide quietscht an der Tafel.
Beim Gottesdienst läuten die Kirchenglocken.
Und häufig, kann er sich nicht mehr auf seine Aufgaben konzentrieren, weil er seine ganze Kraft dafür braucht, die Geräuschkulisse zu ertragen.

„Die Dana (der Name ist beliebig durch 26 andere zu ersetzen) hat ihr Buch umgeblättert, das war so laut, dass ich nicht mehr gehört habe, was die Lehrerin sagt“ ist eine Alltäglichkeit, wenn wir Mittags die Schule besprechen.
Genau wie die abenteuerlichsten Neologismen. Er versteht – und schreibt daher – viele Worte falsch, weil er sie nicht von den Hintergrundgeräuschen in der Klasse filtern kann.

Zu Hause, in unserer Höhle, in Ruhe, geht das viel besser.
Deswegen kommt eine Betreuung über Mittag für uns auch nicht in Frage. 
Zu Hause betonen wir ganz übertrieben jeeeeeeden Buchstaben, schauen ihm dabei tief in die Augen und vermeiden natürlich jegliche Ablenkung, wenn es möglich ist.
Denn möglich ist das leider nicht immer.
Unsere Wolfsfamilie besteht, wie die meisten, aus einem Elternpaar und mehreren Nachkommen. Und unser ältester Jungwolf unterstützt uns auch zu gerne in der Aufzucht der neuen Welpen, beispielsweise indem er uns Eltern ein Toilettenspülungsverbot auferlegt hat, wenn der kleine Bruder schläft, der muss schließlich vor solchen Geräuschen geschützt werden
– als Dank für diese Fürsorge des großen Bruders, ist der Kleine aber leider nicht immer passend zur Hausaufgabenzeit leise.

Dafür ist er immer passend in Spiel- und  Quatsch-Laune und hilft seinem großen, introvertieren Bruder aus sich raus zu kommen und sich auszutoben.
Denn obwohl beide Kinder sich unheimlich für Bewegung jeder Art begeistern, ist Sport ein ganz schwieriges Thema.

Jeden Morgen wird  direkt nach dem Aufwachen aufgeregt gefragt: „Ist heute Sport?“
Denn an Sport-Tagen wird spezielle Kleidung rausgesucht:
Hosen mit Schlupfbund haben wir in rauen Mengen gekauft und Schuhe ohne Schnürsenkel. Beides kan­n man nämlich schneller ausziehen und somit schneller der Umkleidekabine entkommen, wo die anderen Kinder die Tür zuwerfen.
Auch Ohrenstöpsel aus Wachs finden an diesen Tagen den Weg in den Schulrucksack, es könnten ja Bälle durch die Halle knallen.

Aus dem gleichen Grund haben wir auch jedes Hobby wieder aufgeben müssen, egal wie viel Spaß er an der eigentlichen Sache hatte.
Nur Schwimmen geht, da taucht er einfach den Kopf unter Wasser wenn es zu viel wird, das dämpft so schön.
Natürlich hat unser Jungswolf auch Hobbys, nicht wenige sogar, er modelliert mit Gips,  er schnitzt, er backt, er kocht, er näht. Er studiert Tiere. Er ist sehr kreativ.
Aber dabei auch meist allein.

Und ähnlich allein müssen wir nun rausfinden, welcher Weg der unsere werden wird.
Viel Lektüre und Erfahrungsberichte gibt es (noch) nicht.
Gleichbetroffene haben wir auch noch keine gefunden, würden uns aber über einen Austausch sehr freuen.
Die Ärzte widersprechen sich teilweise mit ihren Empfehlungen, weil einfach niemand den wir bisher besucht haben ein wirklicher Spezialist für Hyperakusis ist.
Wo wir so jemanden finden haben wir bisher auch noch nicht herausgefunden.
Wir stehen noch ganz am Anfang und hängen noch deutlich in der Luft – Hörwahrnehmungstraining, Gewöhnungstherapie oder ein Hörgerät mit Lautsträkedifferenz sind die (uns derzeit bekannten) Optionen.
Mit der Entscheidung für eine Richtung wollen wir uns Zeit lassen und alles in Ruhe abwägen, denn scheinbar kann der falsche Weg die Situation verschlimmern.

Wir wissen aber: mit Ruhe werden wir den Weg finden, der unseren Sohn aus seiner Höhle locken kann und ihn stark machen kann für ein Leben außerhalb – so dass er irgendwann Mal ein Alpha-Wölfchen wird!

8 Kommentare

  1. De Kölsche sagt

    Bei einem meiner Zwillinge wurde diesem Februar Hyperakusis diagnostiziert. Wir machen seit 2 Wochen ein Audiva-Therapie auf Anraten einer Petaudiologin. Beide sind im Sommer 2016 eingeschult. Einer fiel von Anfang an auf, das er nicht gut in der Klasse klar kam. Es ergaben sich immer mehr Schwierigkeiten wie Aggression, bockig sein, laut störend, Mitschüler ärgern und Sachbeschädigung (aus der Wut heraus). Sein Verhalten bessert sich nicht. Wir haben ja auch gerade erst mit einer Therapie angefangen und die Umstände in der Klasse veränden sich ja auch nicht. Wir stehen auch erst am Anfang und wissen selber überhaupt nicht was zu tun ist. Und liegt es wirklich alles nur an der Hyperakusis? Ihm Ist es oft zu laut in der Klasse aber er gehört selber mit zu den lauten. Jetzt nach einen 3/4 Jahr haben die Leher keine Geduld mehr und wir haben nächste Woche eine Schulkonferrenz.
    Habt ihr ihr mittlerweile mehr Informationen zu den Krankenbild oder einen Fachmann gefunden. Für Rat und Hilfe wären wir sehr dankbar. Gruß

  2. Nicole Wittig sagt

    Total Interessant. Trifft auch alles auf meine kleine zu. Doch bisher fühle ich mich total allein gelassen damit. Keiner kann uns verstehen, vorallem das Verhalten meiner kleinen nicht.
    Irgendwie bekommt man von nirgendwo her Beratung, wie man sein Kind unterstützen und helfen kann.
    Die Diagnose stellt ein Pädaudiologe?
    Lg

    • Wolfmama sagt

      Ja, ein Pädaidiologe kann die Diagnose stellen. Viel Erfolg!

  3. Luise sagt

    Hallo, auch mein Sohn hat eine Hyperakusis (er hört quasi „das Gras wachsen“). Zusätzlich hat er eine Asperger und HB Diagnose. Auch er ist kreativ und ein v.a. eines: ein unglaublich toller Junge :0)
    Sein Leidensweg hat eine deutliche Wendung genommen, seit er mit Elacin-Gehörschutzstöpseln (mit 25dB) versorgt wird. Seitdem ist der Schultag „erträglich“ und es sind sogar Weihnachtsmarktbesuche, Großstadtausflüge und Co möglich.

    Vielleicht solltet ihr dahingehend einen Versuch starten. Bei der Diagnose bekommt man sie verschrieben und unsere (private) Kasse bezahlt die komplett. Einen Versuch ist es wert!
    Die ganzen anderen Stöpsel sind wirklich murks (Sorry)….
    LG
    PS: Und ruhig auf „Extras“ bestehen: warum kann dein Sohn sich nicht gesondert umziehen und im Bedarfsfall eine Auszeit von der lauten Halle oder auch in lauten Unterrichtsstunden bekommen?

    • Luise sagt

      Nachtrag: Wart ihr denn schon bei einem Pädaudiologen?

  4. Julia C. sagt

    Das ist ja eine interessante Fähigkeit, die dein Sohn hat. Habt ihr schonmal Kontakt zu einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören aufgenommen? Soviel ich weiß, haben Kinder die ein Hörgerät tragen auch Schwierigkeiten mit hohem Geräuschpegel, da auch für sie alle Geräusche ähnlich laut sind bzw. schwierig zu filtern. Die Pädagogen kennen sich meines Wissens nach ganz gut aus, welche Maßnahmen man ergreifen kann um den Lärmpegel im Klassenzimmer zu senken, z.B. Teppichböden oder andere Dinge die Geräusche auffangen. Bei uns in Baden-Württemberg beraten diese Schulen auch Kinder, die an Regelschulen sind und geben Tipps wie Ihnen der Alltag erleichtert werden kann. Vielleicht gibt es so etwas auch in eurem Bundesland und das wäre eventuell was für euch?
    Auf jeden Fall wünsche ich euch viel Erfolg auf eurem Weg und dass dein Sohn lernt seine besondere Fähigkeit gut einzusetzen! Und danke, dass du uns von eurem Leben mit dem Besonderen erzählt hast.
    Liebe Grüße Julia

  5. Lisa sagt

    Die Zuversicht die einen anspringt, wenn man das liest ist so toll!

  6. Sabine sagt

    vielen Dank für deinen eindrücklichen Bericht! Das hast du wunderbar treffend beschrieben.
    liebe Grüße
    Sabine

Kommentare sind geschlossen.