Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #55 Diagnosenlos

Unser Leben mit dem Besonderen? Wir sind eine Familie… eine normale Familie. Vater, Mutter, zwei Kinder… der Standard. Das klassische Bild… Tja. ganz so ist es eigentlich nicht.. oder doch?

Unser Grosser kam auf die Welt und war das perfekte Baby. Schrie wenig bis nie und entwickelte sich eher schnell wie gemächlich. Alles Prima. Das zweite Kind, wieder ein Junge.. kam etwas später wie erhofft, aber wir freuten uns riesig. Damals waren wir in England. Der Job meines Mann verschlug uns dort hin und wir fühlten uns sehr wohl. Unser Juengster war ein Kaiserschnitt Baby. Ein geplanter Kaiserschnitt… dieser Entscheidung bereue ich bis heute nicht… ohne diesen Weg hätten wir kein zweites Kind bekommen. Unser Jüngster war ein Schreikind. Er schrie und schrie. Nur an der Brust war er ruhig. Nach ca 10 Monaten wurde es etwas besser. Mit 12 Monaten verweigerte er noch immer jegliche feste Nahrung… abgesehen von ab und an mal einen Keks lutschen. Mit ca 15 Monaten war ich mit den Kräften ziemlich am Ende. Solange kaum geschlafen zu haben, das Kind pausenlos mit mir getragen zu haben, 15 Monate nahezu voll gestillt zu haben. Das war langsam zu viel. Ich stillte radikal ab. ich konnte einfach nicht mehr anders. Wir brauchten ca eine Woche bis er ordentlich aus dem Becher trank und ein wenig vom Löffel ass. Vorher war es gar nicht möglich ihn zu Becher oder Löffel zu überreden. Das war eine riesige Erleichterung. Zwischendurch hieß es, dass er am KissSyndrom leide, ein Osteopath renkte ihm mal ein paar Wirbel ein und ein Orthopäde schaute sich das Kind an und erzählte uns was vom Atlaswirbel, aber wir zweifelten irgendwie an der Geschichte. Es fühlte sich für uns nach Humbug an. Abgesehen davon.. er schrie weiter sehr viel.

Die Zeit verstrich. Der Kleine entwickelte sich normal. Lief und spielte… entwickelte sich zum Sonnenschein.. schrie und heulte aber immer noch sehr viel. Wir zogen zurück nach Deutschland. Er schien sehr schnell frustriert. Wir stellten ihn mit ca 2 Jahren einer Kinderklinik vor, die sich mit Schreikindern beschäftigt. Sie testeten ihn durch. Wir waren erleichtert, dass diese Tests unserem Mini Spass machten. Es schien als wäre er erleichtert alles zeigen zu können, was er so kann. Das einzige Manko… das Kind sprach so gut wie gar nichts. Die Test ergaben schon damals.. keinerlei Intelligenzminderung, frühe mathematische Begabung, er zählte mit den Fingern, er legte 3d puzzle sehr schnell zusammen, er erkannte gleiche Mengen bis 8 ohne abzählen. Es wurden Hörtests gemacht und Reaktionstest und noch mehr spezielle Tests… alles Prima, keinerlei Ungewöhnliches.

Sehr belastend fand ich ich meine Familie rundherum. Es kamen natürlich wieder Weisheiten… aber eins tat mir damals am meisten weh: “Das kommt bestimmt von dem Kaiserschnitt, aber DU hast den ja gewollt!” Im Kindergarten sprach er immer noch sehr wenig. Er erschien uns teilweise sehr abwesend.. malte stundenlang in den buntesten Farben Bilder und zeigte sie immer stolz. Ich hatte sehr früh angefangen ein wenig Zeichensprache zu nutzen, so konnte er sich ein wenig verständigen. Er wechselte später im Jahr den Kindergarten und kam in eine Integrative Gruppe. Der erste Kindergarten kam mit ihm nicht klar. Er machte mehr sein eigenes Ding und in der grossen Gruppe war das nicht möglich. In dem neuen Kindergarten fühlte er sich definitiv wohler. Es gab eine tolle Sprachförderung und die Kindergärtnerinnen kamen prima mit der Individualität meines Kindes klar. Nebenbei gingen wir zur Heilförderung und Ergotherapie. Als der Mini dann 6,5 war, durften wir vier Wochen stationär in die Kinderpsychiatrie. Zwischen sieben anderen Müttern fühlte ich mich sehr unwohl. Kinder mit Problemen.. wesentlich auffälliger wie mein Kind. Ich fragte mich immer öfters, ob ich mir die Probleme nur einredete. Er wurde wieder durchgetestet, beobachtet. Es wurden alle möglichen Berichte der letzten Jahre durchgeackert. Die Vermutung lag damals immer mal wieder bei einem Aspergerautismus. Das Kind sei mathematisch sehr begabt.. und auch künstlerisch-kreativ. Aufgrund der anderen Mütter und Kinder habe ich mehrfach überlegt das Ganze abzubrechen. Mein Kind… traf auf aggressive Kinder… die traten, schlugen, bissen… Mütter die sich erstmal eine Kippe anzündeten. Ich habe immer mehr an mir gezweifelt. Die Psychologen bestätigten mir immer wieder, “das ist es gut mache, das ich Probleme schon im Ansatz ersticke… etc.“.

Ja ich bin eine von diesen Mamas die ihre Kinder eingrenzen. Meine wissen genau wo ihre Grenzen liegen. Keins meiner Kinder hat jemals ein anderes Kind geschlagen. Nichtmal untereinander. Das Ergebnis ist… ist habe Opferkinder. Der Große wird nur zu gerne gemobbt.. Früher, in der Grundschule war es besonders schlimm. In der Folgeschule ging es ähnlich los.

Unser Jüngster.. er bekommt sowas gar nicht recht mit. Ich glaube er reagiert einfach gar nicht erst auf solche Sachen. Er ist einer von diesen, der immer das Gute sieht. Ein irre toller Charakterzug wie ich finde. In der Schule durfte unser Jüngster dann als Integrativkind starten. Kleine Klasse, zwei Lehrer. Irgendwie war es zwar die beste Wahl, die Lehrerin eine Nette, aber mir fehlte irgendwie immer das kleine Stückchen Glück. Unser Kind ging gerne zur Schule, machte seine Aufgaben, übte fleissig und gerne Lesen. Er wurde weiterhin gefördert in der Sprache. Inzwischen sprach er aber klar und verständlich. Nicht altersgerecht, aber völlig ok. Wir versuchten uns zu entspannen.

Beim ersten Elternsprechtag.. tja irgendwie hörte man nicht wirklich viel Gutes. Das Kind stört, hält sich nicht genau an seine Aufgaben, er macht zwar alles schnell und zügig und richtig, aber mecker mecker mecker. Es hatte nicht recht Hand und Fuss. Im Sommer zur zweiten Klasse hin bekam mein Mann sein Traum-Jobangebot seiner Firma und wir entschieden uns in die USA auszuwandern. Wir sind nun seit 1,5 Jahren in den USA. Meine Kinder sind völlig integriert, sprechen beide prima Englisch. Der Große ist happy, Mobbing ist hier kein Thema. Die Schulen gehen dagegen sehr aggressiv an. Der Kleine ist ein echter Sonnenschein. Er ist richtig aufgeblüht seit wir hier sind. Natürlich war es erstmal nicht leicht. Aber wir haben ihm immer wieder Mut gemacht und bestätigt, dass er alles prima macht. Nach einer sogenannten Honeymoon Zeit startete er auch in der neuen Schule mit teils seltsamen Verhalten. Er war schnell frustriert und die Lehrerin hatte keine Chance mehr an ihn heran zu kommen. Er weinte dann urplötzlich los und war nicht mehr zugänglich. Wir haben mit Schuleintritt hier absichtlich nichts gesagt um zu sehen was passiert. Und es ist ja passiert. Er zeigt wieder das seltsame Verhalten, welches nicht recht fassbar ist.

Das Tolle hier, es gibt innerhalb der Schule ein Team, welches sich zusammensetzt und erörtert, wie sie dem einzelnen Kinder helfen können. Wir sind bei den Gesprächen immer mit dabei und werden auch immer gefragt, was wir von den Ideen halten. In nun ca 6 Wochen wurde soviel mit meinem Kind gearbeitet, das er nun ein völlig anderes Kind ist. Hier ging es nicht darum irgendeinen Grund zu finden.. irgendeine Krankheit anzuquatschen. Hier ging es darum individuell zu schauen was man machen kann um ein negatives Verhalten positiv zu verändern. Nun lernt er ganz normal mit allen anderen mit. Die Klasse ist nur 19 Kinder stark und unser Kind liebt seine Lehrerin und seine Schule und kommt glücklich nach Hause.

Natuerlich haben wir noch immer Phasen, die nicht leicht sind und wir suchen stetig Wege wie wir da durch kommen. Was ich sagen will – es wurde nie ein Grund gefunden für die Sprachentwicklungstoerung und seltsamen Verhaltensweisen. Das Kind wurde rauf und runter getestet. Zig Krankheiten ausgetestet. Es wurde immer danach gesucht was ihm FEHLT… aber irgendwie nie… was ihm wirklich fehlt.. wie man ihm helfen kann. Ich glaube oft, das uns die individuelle Beobachtungsgabe fehlt. Mein Mini ist ein sehr BESONDERES Kind… vor allem sehr kreativ und wirklich ein kleines Wissenschaftsgenie. Er spiel leidenschaftlich Schach und ist im Wissenschaftsclub, er malt wahnsinnig tolle Bilder und hat schon Preise gewonnen. Sein Traum ist es Architekt zu werden. Er ist immer voll mit Ideen und um ihn herum schwirren immer ein paar Herzchen und Schmetterlinge. Nur stört ihn nicht zu sehr in seiner Welt.

8 Kommentare

  1. tipla sagt

    Hallo, mein kleiner ist auch ein wenig besonders.. Kam jetzt von einem Arzt die Diagnose sensorische Integrationsstörung, dass heisst, das alle Reize uncoordiniert bei ihm ankommen…Und ihn überfordern…Er ist nun acht Jahre. Die Diagnose passt total,kam von einem anthroposophischen Arzt und erklärt alle Probleme von Geburt an..ließ mal im Internet. Er konnte mit essen,schnulzig auch nichts anfangen,macht dicht wenn es zu viel wird.

  2. Yvonne sagt

    Die Geschichte ähnelt der unserer zweiten Tochter sehr. Niemand weiß, was ihr „fehlt“, aber das da Irgendetwas nicht stimmt ist den Meisten klar.
    Ich kann nur sagen: es liegt ganz sicher nicht am Kaiserschnitt! Alle vier Kinder kamen per Kaiserschnitt. Das erste ungeplant, die anderen geplant. Das Ergebnis: einmal hochbegabt, einmal besonders, zweimal „Standardkind“ 🙂
    Keines meiner Kinder hätte eine Spontangeburt unbeschadet überstanden und ich auch nicht. Anfangs habe ich mit dem Kaiserschnitt gehadert…aber warum eigentlich? Weil man in unserer Gesellschaft als Kaiserschnittmutter weniger wert ist. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte auch drogenabhängig sein können – das wäre ähnlich schlimm gewesen wie der ach so furchtbare Kaiserschnitt. Ok, die Geburtserfahrung für das Kind ist eine Andere, aber es gibt keinerlei Nachweis dafür, dass das irgendwelche Konsequenzen oder gar Behinderungen nach sich zieht. Ganz im Gegenteil, dieses „Back-to-the-roots“-Gequatsche bringt wahrscheinlich so manche Mutter zum Verzweifeln.
    Ich wünsche Dir alles Gute für Deine Familie und ausreichend Kraft und Vertrauen für die Zukunft. Wir sind Mamas – wir schaffen Alles 🙂

    Liebe Grüße
    Yvonne

  3. Vera sagt

    Hast du schonmal was über Hochsensible Kinder (HSK) gelesen? Es gibt da ein Buch von Elaine N. Aron: „Das hochsensible Kind“. Für uns war das wie eine Gebrauchsanweisung für unser Kind, das hat viele Fragen beantwortet.
    Liebe Grüße, Vera

  4. Ani Lorak sagt

    Hallo – hu – danke für das Offenlegen der Geschichte und wie schön, dass es jetzt läuft. Toll. Ich halte auch nicht viel von dem Integrationsgedanken wie er hier gelebt wird. Schwierig! Zu wenig Unterstützung zu wenig Geld und zu wenig Hilfe, die wirklich ankommt. Ich freue mich, dass das Kind jetzt gut angekommen ist und Ihr als Eltern Unterstützung findet. Schlimm, wenn die eigene Familie, die unterstützen sollte, das Problem beim Kaiserschnitt sieht.. Oh Mann! Da fällt mir sicher nichts zu ein! Viel Kraft weiterhin und dass Ihr als Familie zusammensteht!

  5. Knodel Inge sagt

    Hallo!
    Jeder hat so seine Macken bei dem Einen merkt man selten etwas und bei einem Anderen ist es sehr ausgeprägt. Auch wenn alles sehr anstrengend ist, man sich unverstanden fühlt, oft hilflos überfordert, lieben sie ihn und sind glücklich das es ihn gibt. Seinen sie glücklich, dass Ihr Sohn keine lebensbedrohliche Erkrankung hat. Toll, dass Sie in der USA eine gute Schule für ihn gefunden haben. Unsere Tochter ist mit 23 Jahren an Schiezophrenie erkrankt und war schon als Kind etwas schwierig aber sehr liebevoll. Ich kann Sie sehr gut verstehen.
    Liebe Grüße Inge

  6. Uta Hesse sagt

    Sehr schön geschrieben und so treffend für Deutschland. Ich bin Förderschullehrerin an einer Schule für Geistigbehinderte. So kontrovers die Förderschulen im Moment auch diskutiert werden, so denke ich doch, dass wir aufgrund der Teamarbeit in kleinen Klassen genau dieses individuelle Beobachten der Kinder realisieren können. In der integrativen Beschulung sind viele Kollegen und Schulteams doch ziemlich überfordert. Zu Recht, denn in den Klassen sitzt nicht nur ein besonderes Kind, sondern mindestens noch eine Handvoll weitere mit Teilleistungsschwächen etc. Und die Schulbegleiter geben wirklich ihr Bestes, aber sind wir ehrlich, es sind junge Menschen frisch von der Schule, und keine Fachkräfte. Die Bildungspolitik sollte also wirklich die Möglichkeit geben, individuell in jeder Klasse kindbezogene Hilfen beantragen zu können. Das sind dann in einem Stadtviertel mehr und in einem anderen weniger, aber eben kindbezogen und nicht nach dem Gießkannenprinzip.
    So, langer Text, aber das musste ich mal sagen. Und es gäbe noch viel mehr. Aber der Bericht war so treffend.
    Liebe Grüße, Uta

  7. Ja, ich habe eigentlich Glück. Denn bei Jolina haben wir es schwarz auf weiß: „Down Syndrom“ wenn etwas mal nicht so läuft haben wir einen Grund, ob es wirklich am DS liegt oder einen anderen Grund hat ist dann irgendwie unwichtig.
    Eine Bekannte hier im Ort ist seit 6 Jahren verzweifelt auf der Suche nach einer Diagnose für die Entwicklungsverzögerung ihrer Tochter, sie möchte eine Diagnose, etwas das einen Namen hat und sie beneidet uns deshalb um das Down Syndrom (schon eigenartig, oder?)
    Wenn ich die Geschichte so lese ist mein erster Gedanke Asperger, doch das ist sicher schon getestet worden. Wobei hier der Bruder einer Freundin meiner Tochter die Diagnose erst mit 13 bekam und dann seinen I-Helfer, als ich ihn kennen lernte (ohne zu wissen was seine „Diagnose“ ist) erkannte ich es sofort. Ich selbst habe gewisse autistische Züge, okay, die haben wir alle, ich habe einige mehr, aber recht gut im Griff, aber ich fühle mich wohl bei Asperger-Menschen, sie ticken ähnlich wie ich und bei deinem Sohn hört es sich für mich so an.
    Ich wünsche Euch einfach weiterhin Menschen die gut mit ihm umgehen und „besonders“ sind wir ja alle, der eine mehr, der andere weniger und jeder ist genau richtig so wie er ist 😉
    Danke für die Geschichte

  8. Alexandra sagt

    Dieser Beitrag regt sehr zum nachdenken an…vielen Dank!!!

Kommentare sind geschlossen.