Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #32 Mein Leben als (Zwillings-)Geschwisterkind

Ein behindertes Geschwister sucht man sich nicht aus. Es ist einfach da, ob man will oder nicht. Daran gibts nichts zu rütteln. Eines hat man allerdings selbst in der Hand: Was man daraus macht.

Unsere Geschichte von Anfang an: Am 19.05.1992 kamen wir per Kaiserschnitt zur Welt. Gesunde Zwillinge, wie es damals hiess. Da eigentlich nur noch ein Kind geplant gewesen war, gab es auch nur noch ein Kinderzimmer. Die romantische Vorstellung meiner Eltern mit zwei Kinderbettchen mit friedlichen Kindern nebeneinander wurde leider schon früh zerstört. Mein Bruder war sehr unruhig und hielt damit natürlich auch mich vom Schlafen ab. Also wurden wir getrennt. Mein Bruder forderte von Beginn an mehr Aufmerksamkeit und als er auch mit mehr als 2 Jahren noch immer nicht mehr als krabbeln konnte, waren weitere Abklärungen nötig. Hydrocephalus und Cerebralparese waren die Diagnosen. Da wars also klar, mein Bruder war behindert. Er würde wohl laufen können, aber halt etwas verzögert. Eine normale Schule stand für ihn nie zur Auswahl.  Was das alles für mich bedeuten würde, durfte ich in den nächsten Jahren erfahren.

Allgemein hatte ich in der Familie die wahrlich ungünstigste Position. Hatte unsere 2 Jahre ältere Schwester doch schon vor unserer Geburt die gefestigte Prinzessinnen-Position. Und dann kamen wir als Doppelpack. Wer einstecken muss, wenn der eine davon sehr viel Aufmerksamkeit fordert und die andere pflegeleicht ist, muss wohl nicht weiter hervorgehoben werden. Und was soll ich sagen, ich fühlte mich oft alleingelassen. Wohl nicht zuletzt auch deshalb war die Beziehung zwischen meinem Zwillingsbruder und mir von Anfang an recht angespannt. Im Auto konnte man uns nicht nebeneinander sitzen lassen. Dies artete immer darin aus, dass wir uns gegenseitig in die Haare kriegten. Da musste jeweils meine Schwester als Puffer in der Mitte herhalten. Und so war es eigentlich in allen Lebensbereichen. Nur dass die Schwester nicht immer als Puffer da war bzw. diese Rolle ausserhalb des Autos gar nie wahrnahm und der Streit somit zu oft eskalierte. Mein Bruder provozierte sehr gerne und ich ging natürlich immer drauf ein. Er schlug sehr gerne und oft. Und er wusste genau, wo er hinschlagen musste, damit es richtig weh tat. Heutzutage weiss ich, dass ein grossteil seines Verhaltens wohl purer Frust war. Mein Bruder ist nicht dumm. Er merkt schon, was bei andern geht und bei ihm eben nicht. Und da muss als behindertes Kind ein „gesunder“  Zwilling schon echt hart sein. Weil man hier 1:1 vorgeführt bekommt, was eben alles nicht geht. Wenn man sieht, wie die Schwester Freunde heimbringt, Fahrrad fährt, Lego aufbaut und vieles mehr und das selber nicht oder bestenfalls anders kann. Da ist schon einiges An Frustrationspotenzial. Der Beweis, dass dies stimmt, ist für mich, dass wir uns, je mehr mein Bruder konnte, auch immer besser verstanden haben.

Später taten sich für mich zwei Welten auf. Unsere Eltern liessen sich scheiden. Mein Bruder und ich blieben bei meiner Mutter, meine Schwester zog zum Vater. Jedes zweite Wochenende und drei Wochen Urlaub  im Jahr waren wir bei meinem Vater. Hier lernte ich auch, die Zeit mit meinem Bruder zu geniessen. Meine Mutter liess (und lässt auch heute noch) meinem Bruder alles durchgehen. Klar merkt er das, und verhält sich auch entsprechend. Wenn es einen Streit gab, war immer ich schuld. Ganz egal, wer eigentlich angefangen hatte. Und mein Vater? Er mochte kein Geschrei. Er setzte klare Regeln auf und behandelte auch meinen Bruder bezüglich deren Eihaltung nicht anders, als uns Mädchen auch. Und es funktionierte. Mein Bruder war viel ruhiger, viel umgänglicher. Vor allem auch im Ausland (weil die Leute da irgendwie offener sind) gab es so viele tolle Situationen, die man mit meinem Bruder erleben konnte, die man mit einem „normalen“ Geschwister nicht erlebt hätte. Erfahrungen, die man nicht missen möchte und für mich der Beginn dessen, dass ich meinen Bruder nicht mehr abgeben oder eintauschen wollte, sondern mir bewusst wurde, dass ich hier etwas ganz Besonderes bekommen habe.

Mit der Zeit lernte ich, dass es manchmal dem Frieden zuliebe besser ist, auf etwas zu verzichten. Wobei ich es mir in bestimmten Situationen trotzdem nicht nehmen liess, auch mal stur zu bleiben. Immerhin habe ich auch Bedürfnisse, nicht nur mein Bruder. Mein Bruder lernte, dass er sein eigenes Leben hat und dass es genau so schön sein kann, mit dem 3-Rad-Fahrrad durch die Gegend zu kurven und zu trommeln (und darin ist er echt unschlagbar), anstatt Inlineskates zu fahren und Lego zu spielen. Er hatte sein Leben, ich meins. An gewissen Punkten schnitten sie sich und wir konnten immer mehr auch mal zusammen Spass haben. Aber ganz viele Punkte hatte eben jeder auch für sich. Und dies war so wichtig.

Heute (mein Bruder lebt nun in einer Wohngruppe mit Behinderten seines Alters) fragt mein Bruder auch mal nach mir. Nicht nur immer nur nach unserer Schwester. Auch wenn diese noch immer viel interessanter ist, wenn er uns beide sieht. Verständlich, er sieht sie viel seltener. Wir haben mittlerweile eine super Beziehung zusammen. Wir, also mein Partner und ich, holen ihn auch mal ab und gehen mit ihm irgendwo hin. Das letzte Mal geschlagen hat er mich mit 16. Mittlerweile weiss ich ganz genau, wie ich mit ihm zu reden habe, dass ich ihn in Frustrationsmomenten nicht noch mehr hochpausche und respektiere auch, dass ich ihn manchmal einfach in Ruhe lassen muss. Und wenn die gleiche Frage zum hundertsten Mal kommt, beantworte ich sie halt nochmals. Auch wenn ich genau weiss, dass er die Antwort kennt. Er baut so halt Stress vor Unbekanntem ab. Ich darf ihn sogar rasieren. Ein echt schwieriges Thema bei ihm. Das dürfen sonst eigentlich nur Männer und auch da nicht alle. Es macht mir nichts mehr aus, wenn wir in der Öffentlichkeit angestarrt werden. Leute scheinen Behinderte, denen man nichts ansieht, oft nicht zuordnen zu können und reagieren komisch. Ich bereue mein stures Verhalten von früher oft. Unsere Kindheit hätte so viel harmonischer verlaufen können. Aber ich wusste es halt einfach nicht besser. Ich liebe meinen Bruder und bin echt dankbar, dass ich ihn habe und dass ich durch ihn so vieles lernen durfte. Heute mit 23 kann ich das ganz bewusst und wirklich ernst gemeint sagen. Lange hätte ich es aber mindestens genau so bewusst nicht gesagt, denn das Leben als Geschwisterkind war nicht immer einfach-und meine Eltern sich dessen wohl so ganz und gar nicht bewusst.

6 Kommentare

  1. Annika sagt

    Das ist sehr verständlich geschrieben und macht mich noch einmal offener – wie jeder dieser wunderbaren Artikel.

    Ich habe eine kleine Schwester (etwas über 2 Jahre jünger). Wir sind beide „normal“, aber deine Beschreibung der Situation kam auch mir sehr bekannt vor. Ich bin sprachlich versierter, dafür ist sie sportlicher. Wir sind sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Interessen. Sie ist mich als Kind auch oft körperlich angegangen – sehr oft. Ich habe mich nicht wirklich gewehrt, da ich – als Größere – meiner Schwester nicht wehtun wollte. Sie hat de Streit in den meisten Fällen provoziert, aber ich wurde dafür gescholten. Später hat sie zugegeben, dass sie in über 90% der Fälle Schuld war. Mein Vater hat sie besser behandelt als mich, da ihm ihre Interessen mehr lagen als die meinen. Das ging so weit, dass ich dachte, ich sei vielleicht ein Kuckuckskind. Auch Außenstehende haben das bemerkt und angesprochen (sogar ihre beste Freundin).

    Irgendwann hat meine Schwester ein sehr harmonisches Geschwisterpaar gesehen (große Schwester, kleiner Bruder, sehr eng vom Alter zusammen) und wollte das auch so haben. Von Stund an besserte sich unser Verhältnis!

    Als unser Vater dann starb und wir beide Kinder bekommen haben, schweißte es uns nur um so mehr zusammen. Sie wohnt nun in einer anderen Stadt, aber wir haben viel telefonischen Kontakt und sehen uns so oft es geht.

    Natürlich ist mein Situation nicht wirklich mit deiner vergleichbar; aber ich fühlte mich trotzdem so sehr an meine Kindheit erinnert!

    Liebe Grüße von Annika

  2. Danke vielmal für deine Geschichte. So schön mal von einem anderen Geschwisterkind zu lesen :). Als Zwilling ist das sicher noch viel schwieriger. Mein Bruder ist 2.5 Jahre jünger als ich und auch wir haben noch eine Schwester, sie ist aber die jüngste. Am liebsten mag mein Bruder meinen Freund ;), männliche Verstärkung halt. Leider ist er so schwer behindert, dass man ihn nicht einfach abholen kann. Ohne rollstuhlgängiges Auto und rollstuhlgängige Wohnung wirds schwierig. Immerhin bauen wir jetzt ein rollstuhlgängiges Haus, damit mein Bruder auch mal zu uns kommen kann :).
    Weiterhin alles alles Gute für dich und deine Geschwister.

  3. Constance Manek sagt

    Was ein wundervoller Artikel – ich bin eine Mama der Konstellation großer Bruder „normal“ kleiner Bruder „besonders“ und es ist wirklich so wie du es oben beschreibst und nicht einfach für mich als Mama das Gleichgewicht im Lot zu halten – da sich der eine die Aufmerksamkeit holt und der andere diese aber genau so will – ich danke dir für diesen tollen Bericht und hoffe das sich meine beiden auch in ferner Zukunft nicht mehr an die Gurgel wollen und ein bisschen Verständnis für einander aufbringen – ich gebe nicht auf – liebe Grüße Constance

    • Wenn ich sowas lese, wird mir ganz anders. Das behinderte Kind als besonders zu betiteln, kann bei den Geschwistern ganz anders ankommen, die sowieso meist dann schon weniger Aufmerksamkeit bekommen. Auch in den Medien wird es wenn z.B. von Menschen mit Down-Syndrom berichtet oft das Adjektiv „besonders“ eingesetzt. Finde ich sehr merkwürdig & kann ich nicht unterstützen.
      Man MUSS die Aufmerksamkeit aufteilen, ansonsten hat man ein behindertes Kind und eins was seelisch nicht gesund ist. Ob das die Lösung ist, bezweifle ich.

      • Liebe Heidi,

        ich finde, es kommt immer darauf an, was man daraus macht. Ich habe die Rubrik hier zum Beispiel ganz bewusst „Mein Leben mit dem Besonderen“ und nicht mein Leben mit Behinderung genannt, weil das Wort Behinderung in den den Köpfen vieler Menschen eben sehr negativ behaftet ist und „Besonderheit“ außerdem viel mehr umfasst als eine Behinderung, denn jeder Mensch ist auf seine Art und Weise besonders. Und viel wichtiger ist es eben seinen Kindern unabhängig von ihren Stärken und Schwächen das Gefühl zu vermitteln besonders und liebenswert zu sein. Kurz und knapp auf den Punkt gebracht findest Du es in Beitrag #33.

        Liebe Grüße
        Katharina

  4. Das ist wirklich schön geschrieben und eine Perspektive, die man sonst so selten hört bzw. mit konfrontiert wird – wie ist es für Geschwister von behinderten Kindern. Bei Zwillingen ist die Situation wahrscheinlich noch mal extremer.

    Ich hatte in der Grundschule einen Freund mit einem Bruder mit Down-Syndrom. Ich erinnere mich, dass er ihn einfach ganz normal behandelt hat, wie einen Bruder eben. Und obwohl ich anfangs leicht verwirrt war, konnte ich ihn dadurch auch einfach so annehmen, wie er ist. Du warst und bist also sicherlich ein gutes Vorbild für dein Umfeld!

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