Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #93 Von der Angst nicht der Norm zu entsprechen

Als ich mit meinem ersten Sohn im dritten Monat schwanger war, waren wir im Urlaub an der Ostsee. Dort am Strand schlief ich in der Sonne ein und erwachte, nachdem mein Oberkörper, vor allem Gesicht, Dekolleté, Brust blaurot verbrannt waren.


Ich denke da heute noch dran, weil ich mich manchmal frage… ob durch diese intensive Sonneneinstrahlung irgendwelche (vielleicht toxischen?) Vorgänge in meinem Körper abgelaufen sind, die meinem Jungen damals im Embryostadium geschadet haben?


Die Geburt selbst war, denke ich, normal. 28 Stunden Wehen, der Kopf geboren, als ich beschloss: „Tut mir leid, ich kann nicht mehr, ich geh jetzt nach Hause“ – und sich die Hebamme auf meinen Bauch warf, mit beiden Unterarmen drückte, bis der Junge ganz auf der Welt war. Das war im Februar 1990.

Ein liebes Baby mit einem normalen Schlafrhythmus – bis zu seinem 7. Monat. Im September weinte er oft nachts – oft und vor allem lange. Mindestens eine Stunde lang, später länger. Durch nichts ließ er sich beruhigen, weder durch trinken noch Windeln wechseln noch herumtragen. Oder ihn mit zu mir ins Bett holen. Nichts funktionierte. Als ich im Februar 1991 wieder zu arbeiten begann, hatte ich seit einem halben Jahr nicht geschlafen und keine Ahnung, wie dem „beizukommen“ war bzw. was noch auf mich wartete. Ich sage bewusst „auf mich“ – denn mein Ex-Mann (auch in seiner Hilflosigkeit) erwartete lediglich, dass ich mich um das Problem zu kümmern hätte – und um die Lösung. Ich war es, die nachts aufstand, wenn das Kind zu schreien begann. So sehr, dass die Nachbarn neben uns sich beschwerten, weil deren Tochter davon geweckt wurde. So sehr, dass die Nachbarn aus dem Haus gegenüber „Ruhe!“ brüllten, weil wir es im Hochsommer gewagt hatten, die Fenster ob der kühleren Nachtluft geöffnet zu halten. Man steht ja nicht auf und denkt: „Huch das Kind schreit, Fenster zumachen, damit es die Nachbarn nicht stört.“ Man steht (irgendwann mechanisch) auf und denkt: „Was soll ich machen? Hoffentlich nicht wieder die halbe Nacht lang.“ Die Fenster haben wir aber dann natürlich immer geschlossen.


Der Kinderarzt wusste keinen Rat, der Kinderpsychologe meinte, es läge daran, dass das Kind im Zimmer mit uns schlief (was wegen der kleinen Wohnung damals nicht anders ging) und das Kind eben die Situation ausnutze. Die alte hutzlige Frau auf der Insel, zu der wir gingen, strich ihm über die Stirn und meinte: „Er ist von jemandem besessen. Es sitzt jemand auf ihm.“ In meiner Verzweiflung nach mittlerweile zwei Jahren des nächtlichen Schlafentzugs tat ich sogar, was sie riet: eine Nähnadel über den Türeingang in die Wand pinnen, mit der Nadelspitze nach unten. Das sollte „den bösen Geist“ fernhalten.


Geholfen hat nichts. Gar nichts. Auch nicht, dass der Junge später allein im Zimmer schlief. Er schrie tatsächlich jede einzelne Nacht – bis vier Wochen vor seinem dritten Geburtstag.
Von einer Nacht auf die andere hörte er mit dem Schreien auf. Zu der Zeit waren wir gerade auf der Insel, daran erinnere ich mich so genau. Meine Tante hatte ihr erstes Kind bekommen und meine Mum und ich sagten zu dem Jungen: „Komm, wir schenken dem Baby deinen Nuckel, du brauchst ja keinen mehr.“ Natürlich haben wir ihr den nicht geschenkt – aber der Kleine hat es geglaubt. Ob das zufällig alles zusammen fiel oder warum auch immer – der Junge hörte fast augenblicklich mit dem nächtlichen Schreien auf. Bis heute bin ich da nicht sicher, denn ein „Nuckelkind“ war mein Sohn eben auch nicht. Der Nuckel war halt eben nur da, benutzt hat er ihn selber so gut wie nie.

Wie war er als Kleinkind? Unglaublich wissbegierig, neugierig, zutraulich, offenherzig. Er ging auf alles und jeden zu, er kannte mit 3 Jahren sämtliche Autotypen, erkannte viele bereits an kleinen Details und er dachte wesentlich schneller als er zu sprechen vermochte. Dadurch verhaspelte er sich oft und der Vater war genervt: „Ich weiß nicht, was der von mir will, kannst du mir das sagen, verstehst du den?“

Unsere Ehe war ein Krampf, wir stritten oft und heftig, mal warf er was, mal zertrümmerte er Mobiliar, mal ohrfeigte er mich. Aber immer beleidigte und erniedrigte er mich auf das Äußerste.
„In einem Streit will ich gar nicht, dass da was bei rauskommt. Ich will dir dann nur weh tun, so viel wie möglich“, waren seine Worte.


Meist stritten wir wegen dem Jungen. Weil der Junge einer Norm zu entsprechen hatte und weil er „was zum Angeben haben wollte“. Was den Sohn und seine Frau betraf.  Nach außen hatten wir zu funktionieren. Außen wäre nie jemand auf die Idee gekommen, wie die Ehe im Inneren tatsächlich war. Weil er im Außen nur von „seiner Liebsten“ sprach, seine tolle Frau, die alles konnte und alles machte. Eine starke Frau, die ihren Mann stehen würde. Das erfuhr ich Jahre später von anderen.
Zu Hause war das ganz anders. Zu Hause sagte er mir oft, was für ein Versager ich sei, wie scheiße ich aussehe und dass ich nur froh sein konnte, einen Mann wie ihn bekommen zu haben. Ohne ihn sei mein Leben nichts und ohne ihn käme ich sowieso nicht klar. Ich würde einbrechen ohne ihn.
Hört man das lange genug, glaubt man das – egal wie sehr man sich dagegen wehrt.

Und der Junge? Ihm ging es genauso.
Meine damalige Freundin hat so oft gesagt: „So kann man doch nicht leben, du musst dich trennen, ich helfe dir!“
Aber ich war damals noch nicht so weit. Damals dachte ich wirklich noch, man kann das schaffen, wenn man will – und wir hatten doch den Jungen. Ich traute mir diesen Sprung einfach nicht zu.

Unvergessen für mich der Abend, als wir beim Essen saßen und der Kleine trotz des Lieblingsessens nichts haben wollte. Keine Nudeln, keine Tomatensoße. „Möchtest du stattdessen einen Joghurt?“ habe ich ihn gefragt und mein Ex fuhr dazwischen: „Der isst gefälligst das, was auf den Tisch kommt!“
Er zwang das heulende Kind zu essen, und zwar alles, ich konnte es kaum mit ansehen. Als der Junge sich anschließend erbrach, auf seinen Teller, auf den Tisch, da sprang mein Ex auf, der Stuhl fiel zur Seite und er wollte das Kind packen. Da ging ich dazwischen: „Wage es nicht, den Jungen anzufassen!“
Das war der Moment, in dem er völlig austickte, weil ich es gewagt hatte, VOR dem Jungen IHM zu widersprechen.
In der Nacht schlief ich im Zimmer mit dem Jungen und am Tag darauf fuhr ich mit ihm auf die Insel.
Meine Eltern waren es, die den Streit schlichteten und uns wieder näherbrachten.

Der Junge war drei Jahre alt, als ich zwei- oder dreimal das Kind aus der Kita holte und schockiert war von seinem Anblick: entweder das Gesicht völlig blutig verschrammt oder einmal eine dicke blaue Beule über die halbe Stirn, so dass er aussah wie ein Mutant. Tatsächlich.
Auf meine Frage, was passiert sei, hieß es, man könne es sich nicht erklären. Einmal habe er neben ihnen gestanden und sei aus dem Stand aufs Gesicht gefallen.
Das andere Mal sei er mit dem Dreirad gefahren und – obwohl sie ihn gerufen hätten – sei er gegen die Mauer gefahren.


Ich weiß bis heute nicht, ob das so stimmte, aber ich habe meine – vermutlich berechtigten – Zweifel an den Aussagen. Immerhin wussten die Erzieher oft nicht, wo mein Sohn überhaupt war, wenn ich ihn abholen wollte. Oder sie dachten, er sei schon von Oma & Opa abgeholt worden. Er spielte dann meist im Garten, wo auch Klettergerüste etc. stehen.
Vom Kinderarzt wurden wir zu einem Neurologen überwiesen – ein ehemaliger Sportler, der sich auf dem Gebiet der Neurologie kundig gemacht hatte. Der veranlasste ein EEG und überfiel mich mit der Aussage: „Ihr Kind hat schwere Absencen. Das ist eine Form der Epilepsie, in der das Bewusstsein abschaltet. In diesen Momenten registriert er nichts mehr, auch wenn er körperlich da ist. Bei ihm sind die Ausfälle so stark, dass ihm ungefähr ein Drittel vom Tag fehlt.“


Er wurde medikamentös eingestellt, regelmäßige EEGs veranlasst. Bei jedem Termin wurde ich gefragt, wie es dem Kind ginge. Der Junge war mein erstes Kind, das erste in der Familie überhaupt – auch in der Familie meines Ex-Mannes. Ich hatte null Erfahrung damit, was „normal ist und was nicht“. Wenn ich was erzählte und fragte, hieß es lediglich: „Wie groß ist er jetzt? Wie schwer? Wir erhöhen die Dosierung.“ Das steigerte sich bis hin zu 2 Medikamenten am Tag. Leider Gottes reagierte ich da immer noch nicht. Ich war so verdammt arztgläubig. Und dumm.

Er war zwei oder drei Jahre alt, als er die Windpocken bekam. Er sah wirklich richtig schlimm aus im Gesichtchen, kein freier Platz, alles übersät von den Pusteln, die Augen halb zugeschwollen. Der Kinderarzt war konsterniert: „So einen schweren Fall habe ich noch nie in meiner Praxis gesehen. Wenns schlimm kommt, kann er noch eine Lungenentzündung bekommen.“
Die bekam er auch.
Der Kinderarzt meinte ein paar Jahre später mal zu mir: „Bei Ihnen habe ich mich drauf eingestellt, dass alles immer anders läuft als bei anderen Kindern. Immer wenn ich denke, ja das wird schon, wir machen das so und so, kommt bei Ihren Kindern immer noch was Außergewöhnliches nach. Es ist nie einfach.“

Er war vier Jahre alt, als seine Oma am Krebs elend zugrunde ging.
Als er im Herbst aufgrund einer Infektallergie und der akuten Gefahr, daran ersticken zu können, ins Krankenhaus musste, sagte er: „Wir sind immer so schön auf die Insel gefahren. Jetzt können wir das nicht mehr.“ Er dachte, jetzt müsse auch er sterben, weil er eine Infusion gelegt bekommen hatte.
Die Ärztin gestattete mir, die Tage bei ihm in der Klinik bleiben zu dürfen. Mein damaliger Chef hatte dafür kein Verständnis. Ich glaube, er hat mich ohnehin nie wirklich akzeptiert. Ich war ihm zu nachgiebig, zu weich, zu wenig ehrgeizig. Mir oblag die Führung des Schreibbüros, doch seiner Meinung nach zeigte ich das zu wenig. Weil mir wichtiger war, mich mit den Leuten zu verstehen, ein gutes Arbeitsklima zu haben. Ich war immer eher Freund statt Vorgesetzte.

Mein Sohn wurde mit 6 Jahren eingeschult, im September 1996. Im November/ Dezember 1996 veranlasste der Neurologe eine spezielle Tauglichkeitsuntersuchung in einer psychiatrischen Klinik. Warum, weiß ich nicht mehr genau. Konkrete Anlässe gab es jedenfalls keine.
Damals wurde ich gefragt: „Wollen Sie 8-Uhr-Termine oder eher nachmittags?“
Im Hinblick auf das Mobbing in der Firma entschied ich mich für Termine am Nachmittag. Weder wurde ich im Vorfeld darüber aufgeklärt, was dort gemacht wurde noch welche Bedeutung das Ganze hatte.


Es war einer der Termine, vor dem ich – seit 2 Monaten erst im Besitz des Führerscheins – einen schweren Unfall selbst verschuldete. Niemandem war körperlich etwas passiert – aber beide Autos waren Schrott. Mein eigenes – ein Trabant – und der andere. Der andere, der zu Recht maßlos sauer auf mich hätte sein können, der mich aber auf der Kreuzung tröstete, weil ich Angst hatte, heimzukommen und das meinem Ex zu beichten. Auch ein Kollege, der zufällig dazukam, meinte beruhigend: „Bei DEM Crash wird Ihr Mann froh sein, dass Ihnen nichts passiert ist.“
Ich wusste es besser – und behielt auch recht. Er hat dermaßen getobt, dass ich mich vor Angst bei seiner Schwester verkroch. Es war das einzige Mal übrigens, dass sie für mich da war.
Sonst hat sie immer gesagt „Ich will mich da nicht gegen meinen eigenen Bruder stellen.“
Sprich: Sie hat sich aus allem rausgehalten.
Vielleicht kann man das menschlich nachvollziehen.


Aber ich fühlte mich komplett allein gelassen, denn hier hatte ich niemanden. Auch die Freundin nicht mehr, weil die – begreiflicherweise – irgendwann sagen musste: „Ich verstehe, dass du nicht tun kannst, wozu du noch nicht bereit bist. Aber ich kann mir das nicht mehr mit ansehen. Ich muss auch mich selber schützen. Erzähl mir nichts mehr davon.“

Das Ergebnis der psychiatrischen Klinik war dann: „Ihr Kind besitzt eine unterdurchschnittliche Intelligenz. Er muss sofort aus der Normalschule raus und auf eine Sonderschule.“
Sie zeigten mir ein Diagramm, wonach er irgendwelche Aufgaben nur schlecht und nur eine einzige – an der Stelle völlig unerwartete – Aufgabe am Rande der Genialität bewältigt hatte.
Nach dem ersten Schock fragte ich nach, was das für Aufgaben waren, ließ mir das zeigen.
Das war im Herbst 1996, kaum dass er in die Schule gekommen war. Er, der wie viele andere Erstklässler gefordert war von den neuen Anforderungen und jeden Tag Mittagsschlaf hielt. Er, der an den Tagen, die wir in die Klinik mussten, nicht schlief, sondern nach der Schule komplexe Konzentrationsübungen zu bewältigen hatte. Konnte er das überhaupt schaffen? Die meisten Kinder machen in der Phase nicht mal Ausmalübungen, sondern spielen nur.
Warum wurden mir der Umfang und die Bedeutung nicht vorher erklärt? Hätten sie mich nicht darauf hinweisen müssen, dass solche Übungen morgens und nicht erst nach einem für ein Kind langen Tag nach Schule und Hort hätten vorgelegt werden sollen?
Meine Mum ist Erzieherin. Sie glaubte kein einziges Wort: „Ganz ehrlich? Er war jeden Sommer bei mir – das wäre mir aufgefallen. Er ist nicht dumm, im Gegenteil. Er ist viel beweglicher als andere in seinem Alter.“
Bereits Ende der 1. und Anfang der 2. Klasse entwickelte er verstehendes Lesen. Etwas, das wohl normal erst in der 3. Klasse kommt. Er schrieb gerne und viel, rechnete gerne und viel und schrieb auf jedes Stück Papier, das er finden konnte. Bis heute denke ich an seine erste selbsterdachte Rechenaufgabe, die er in der 1. Klasse auf den Zeitungsrand kritzelte:
„3 – 5 = Gonieks“ – gar nichts 🙂

Er war ein ganz verspieltes Kind, das es selten rechtzeitig zur Toilette schaffte. Eine Zeitlang war das so ausgeprägt, dass der Kinderarzt eine Untersuchung in der Uniklinik veranlasste. Ergebnis: Organisch alles OK, Miktion vollständig, Kind ist zu verspielt und geht zu spät.
Mein Ex konnte das nicht hinnehmen. Er wollte den Jungen schocktherapieren, indem er ihn kalt duschte. Natürlich ergebnislos.
Es erledigte sich von selbst, als der Junge älter wurde.

Aufgrund seiner Infektallergie empfahl die behandelnde Ärztin, seine Mandeln operieren zu lassen. „Die sind so zerklüftet von den vielen Infekten, dass die ihre Funktion eingestellt haben und jegliche Keime ungefiltert ins Blut geben. Daher die Infektallergie. Aber so einfach können wir ihn nicht operieren. Er ist ja mit Antiepileptika eingestellt. Das muss der Neurologe mit steuern, nicht dass der Junge während der OP wegbleibt.“
Und der Neurologe sagte etwas, das ich bis heute nicht vergessen kann: „Na und? Und wenn das passiert, gibts doch auch immer noch genug Mittel und Wege, um den Jungen zurückzuholen.“
Das war endlich der Moment, in dem ich aufstand und sagte: „Jetzt reicht es.“
Der Kinderarzt bestätigte: „Es haben sich schon mehrere Eltern negativ geäußert.“ Er überwies mich an die Uniklinik, die die weitere Betreuung der Absencen vornehmen sollten.
Dort wunderten sie sich: „Brauchen Sie uns jetzt zur zweiten Meinung oder warum sind Sie hier? Wenn Sie uns fragen: Ihr Sohn hat keinerlei Auffälligkeiten im EEG.“
Natürlich revidierten sie sich dahingehend, dass sie meinten: „Kann ja auch sein, er ist medikamentös so gut eingestellt, er braucht aber in jedem Fall keine Medikamente, wir schleichen die langsam aus.“

Wegen seiner sprachlichen „Verhaspelungen“ sollte er in der Uni noch bei der Sprachtherapeutin begutachtet werden. Da war er kurz vorm Übergang in die 2. Klasse. Ihr erzählte ich erst mal gar nichts zur Vorgeschichte. Ihr Ergebnis: „Ihr Sohn ist völlig in Ordnung. Bisschen verspielt, verträumt, aber alles super.“
Ich erinnere mich noch so deutlich an sie mit ihren blond ondulierten Locken, der weißen Perlenkette und dem aufgeschlagenen Neckermann-Katalog unterm Schreibtisch und diesen Termin, weil mir das folgende wie eine Farce vorkam.
„Da bin ich aber wirklich echt froh. Weil es letztes Jahr hieß, seine Intelligenz sei unterster Durchschnitt und er müsse sofort raus aus der Schule, ich würde ihn überfordern. Dabei war das weder in der Kita ein Thema noch bei meiner Mutter, die auch Erzieherin ist, und bei den Lehrern in der Schule auch nicht.“
Sie war ganz erstaunt darüber, wandte aber sofort ein: „Na jaaaaa…. Wenn man es ganz genau besieht….“
Ich reagierte: „Wie denn nun? Gerade noch ist alles in Ordnung und jetzt doch nicht?“
„Sie können ihn ja wenigstens bis zur 4. Klasse in die Sprachheilschule schicken.“
„Und warum sollte ich das tun? Sie haben doch gerade gesagt, es ist alles super und in Ordnung?“
„Na ja aber Sie sehen ja selber, dass er sich öfter mal verhaspelt.“
„Haben Sie nicht selber gesagt, er denkt schneller als er sprechen kann? Dass das für seinen regen Geist spricht? Für seine geistige Beweglichkeit? Muss er dazu auf eine Sonderschule, obwohl sie gerade noch sagten, es ist alles gut so wie es ist?“
Ich bin nie wieder zu ihr hingegangen. Ich habs nicht verstanden. Aber er ist anschließend für rund zwei Jahre mit mir zur Logopädin gegangen. Das ist nämlich auch ein Weg, anstatt ein Kind gleich völlig aus dem Gewohnten zu reißen.

Die Epileptika wurden ausgeschlichen, es wurde ein ADS-Syndrom diagnostiziert („Sie sehen doch selber, er ist immer in Bewegung, auch wenn man denkt, er sitzt nur da und liest ein Buch. Aber dabei schaukelt er mit dem Bein oder kratzt sich oder sonstwas. Er hat ADS.“)
Ich frage mich übrigens, was ich dann habe. Ein dreifaches ADS? Weil der Mann neben mir verrückt wird manchmal und ich ihn ganz nervös mache, weil ich mich genauso verhalte, wenn ich aus verschiedenen Gründen angespannt bin? Gibt es tatsächlich sowas wie eine Norm, und alles, was davon abweicht, ist krankhaft? Ich verstehe das immer öfter nicht. ADS oder ADHS sind für mein Verständnis viel zu schnell und zu leicht missbrauchte Diagnosen.


In der 3. Klasse bekam er Ritalin verordnet, weil die Lehrerinnen sagten: „Er kann das, er ist klug. Aber er kann sich nicht konzentrieren.“
Und sie sagten folgendes, das mir auch nie wieder aus dem Sinn kam:
„Er ist wie ein Motor, der ganz langsam anläuft. Wenn er mal läuft, dann läuft er und ist nicht aufzuhalten. Aber er braucht Zeit, bis er soweit ist.“
Unter dem Ritalin wurde es spürbar besser – aber sollte das eine Lösung sein? Psychopharmaka, die nicht mal jeder Kinderarzt verschreiben darf?
Es war im März 1999, als ich einen Termin bei dem Professor verpasste und entweder einen Tag zu früh oder zu spät in der Uni war. Ich hatte aber so lange gewartet, dass es der Schwester leidtat: „Sie sollen nicht umsonst gekommen sein; sie könnten auch zu seiner Frau gehen, die liest sich grad in Ihre Akte ein.“
Diese Frau, sehr warmherzig, zugewandt, empfing mich sehr freundlich und mit den Worten: „Ich habe mir die Akte Ihres Jungen mal angeschaut. Das, was da als schwere Absencen diagnostiziert wurde, sind ganz normale frühkindliche Anomalien, die wir bei jedem dritten Kind finden würden, wenn wir alle untersuchen. Aber das gibt sich ganz von alleine, das verwächst sich wieder.“
Also haben wir all die Jahre den Jungen völlig umsonst gequält? Und uns mit? Was wäre uns allen, vor allem dem Jungen erspart geblieben?

Damals schwor ich mir: Ich lasse mich nicht mehr verrückt machen, ich lasse den Jungen einfach den Jungen sein und nehme ihn so wie er ist.

Er war 13 Jahre alt und in der siebten Klasse, als ich mich von meinem Ex trennte, fortgehen wollte aus dieser Stadt und auch diesem Bundesland, und der Junge sagte: „Ich will beim Vater bleiben. Einer muss doch beim Vater bleiben.“
Ich habe das damals zugelassen – und das quält und belastet mich bis heute.
Ich habe es zugelassen, weil ich glaubte, es sei für ihn das Beste. Weil diese 7. Klasse die erste war, von der er sagte: „Ich fühle mich hier so wohl und hab Freunde, woanders habe ich das vielleicht nicht!“ Gemessen an den Jahren bis dahin wollte ich es ihm einfach nicht noch schwerer machen.
Dafür aber gab ich mein Vorhaben, aus dem Bundesland wegzugehen, auf und blieb im Nachbarort. Damit ich in der Nähe war.
Doch was mit der Trennung auf ihn zukam und auch auf mich, das hätte ich mir nie niemals im Leben vorstellen können. Der Rosenkrieg, der auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wurde.
Damals wog ich gerade noch 50 Kilo bei fast 1,80 m Größe, mir fielen die Haare aus, die Nägel brachen mir weg und das Blut lief aus mir wie Wasser.
Der Kleine war dabei, wenn mein Ex gegen das Auto schlug und trat oder mich in der Kita vor Eltern und Kindern anbrüllte, dass er von mir ein psychiatrisches Gutachten anfertigen ließe, um zu beweisen, dass ich krank im Kopf sei. Der Kleine hat dann oft geweint, der Große nicht – der verschloss sich mehr und mehr. Wenn der Vater z. B. Tabletten und Alkohol auf den Tisch stellte: „Fahr ruhig mit deiner Mutter auf die Insel, ich löte mich zu am Wochenende, dann merke ich nichts davon.“ Natürlich ist der Junge nicht mit mir gefahren.
Nie vergesse ich seinen Blick, als mein Ex mich von der Firma bis heim mit dem Auto verfolgte, den Großen auf dem Beifahrersitz, nur um mich dann vor der Haustür abzufangen: „Deine Anwältin kann mir zehn Briefe schreiben von wegen Abstand halten, mir doch egal! Ihr könnt mir gar nichts!“


Da war der Junge fast 14. Er wurde von Ex zu einer sogenannten Mediatorin gebracht, aber das tat er nicht für den Jungen, sondern für sich selbst. Denn mir verbot er den Kontakt dorthin und als ich es nach zwei Monaten nicht mehr aushielt und doch mal dort anrief, meinte die zu mir: „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie sich mal melden.“
„Mein Ex sagte, ich soll mich nicht melden, Sie würden auf mich zukommen.“
„Wieso sollen Sie sich nicht melden, das ist doch Ihr Sohn.“
Nach dem 1. Gespräch mit mir revidierte sie ihre bisherige Meinung über mich (egoistische Karrierekuh, so hatte mich der Ex dargestellt), sie sagte zu mir: „Sie sind ja ganz anders, als Ihr Ex-Mann Sie beschrieben hat“ (ach nee, na sowas), und nach dem 2. Gespräch mit mir regte sie bei meinem Ex an, dass sie beginnen sollten, mit IHM zu arbeiten. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass mein Sohn nie wieder dort hingehen sollte und auch nicht mehr hingegangen ist.

Seine zehnte Klasse hat der Junge dann trotz allem gut (also mit Zwei) abgeschlossen, eine Ausbildung als Elektroniker für Betriebstechnik begonnen, weil er keinen Plan hatte, was er werden wollte – und ich den Ausbilder kannte.
Im Nachhinein sagt er selbst von sich: „Ich hab das erste Jahr gar nichts gemacht, mir fehlt deshalb jede Grundlage.“ In der Praxis gab es Dinge, die ihm super lagen – und andere, wo er völlig versagte: Es lag ihm einfach nicht. Er sagte: „Ich zieh das durch, weil ich kein Abbrecher sein will. Aber danach mache ich was anderes.“


Er erwarb sich den Führerschein und kaufte vom Gesparten sein erstes eigenes Auto – das alte Fahrzeug seiner Tante. Die Wochen über verbrachte er in einer WG, die Wochenenden war er fast ausschließlich bei mir, den Vater sahen sie meistens 1 x im Monat, manchmal auch 2 x.
Kurz vor Ende der Ausbildung wurden mein Ex und ich in die Berufsschule bestellt. Man legte uns nah, ihn abbrechen zu lassen: „Die Praxis wird er schaffen, aber die Theorie nicht. Ihm fehlen alle Grundlagen, aber das können wir ihm nicht mehr vermitteln.“
Es wurde genau andersrum: Die Theorie bestand er mit 3, in der Praxis fiel er zunächst durch. Begründung: Zeit aufgebraucht – er hat die Aufgabe nicht bis zum Abschluss gebracht.
Die Wiederholungsprüfung bestand er dann im Mai 2010 und im August 2010 begann er seine Ausbildung zum Medizinischen Dokumentationsassistenten. Dort fühlte er sich richtig wohl und aufgehoben, alles machte ihm Spaß.
Zu dem Zeitpunkt war er dann schon die meiste Zeit bei uns, weil es ihm bei uns einfach auch besser ging. Keiner, der ihn anbrüllte und auf ihn einhackte. Oder ihn schlug. Oder ihn packte und durch das Zimmer warf. Das sind Dinge, die er nicht selber erzählte – aber sein Bruder mir.
Sein Bruder, der dem Vater Kontra bot – von Anfang an. An den sich der Vater auch nicht „rantraute“. Unvergessen für mich der Satz, den der Große nach einem Streit mit dem Jüngeren zum Vater sagte: „Du musst das verstehen. Mein Bruder ist das nicht gewohnt, dass er angebrüllt wird. Der kennt das von Mutti nicht. Ich schon, ich bin das ja gewohnt.“
Mir verkrampft sich bis heute alles, wenn ich nur an all die Dinge denke.
Und dabei weiß ich noch nicht mal alles.


Er fiel durch eine schriftliche Prüfung, weil er in seiner Versagensangst einen Spicker gebastelt hatte und der erwischt wurde, als er sich entschloss, diesen doch nicht zu benutzen, sondern einzustecken.
„Tut mir leid für Sie“, sagte der Prüfer und der Junge sagte: „Ist okay so, es war ja mein Fehler, nicht Ihrer. Ich hätte so aber nicht durchkommen wollen.“
Die Wiederholungsprüfung im September 2013 bestand er dann und bekam im Februar 2014 den ersten Job in einem Sanitätsfachhandel im damaligen Wohnort. Er blühte regelrecht auf!
Sechs ganze Wochen lang kniete er sich in den Job, versuchte alles zu schaffen und zu bewältigen und fragte immer wieder nach, ob alles gut so sei und wo er sich verbessern könne. Sie haben dann schon geschmunzelt über ihn: „Ach unser T., mach doch einfach dein Ding, das wird schon.“
Von einem Tag auf den anderen, ohne Vorankündigung, wurde er an einem Donnerstag im Rahmen der Probezeit entlassen. Warum, konnte ihm niemand wirklich beantworten. Manche Mitarbeiter waren geschockt. Er am allermeisten. „Du kannst ja, wenn du willst, Freitag noch mal herkommen, aber ab Montag ist dann Schluss.“
Auch dafür liebe ich meinen Sohn, dass er sagte: „Ich bin Freitag da.“
Aber er war am Boden zerstört. Er verstand es nicht. Er wusste nicht, warum und wieso und woran es nun gelegen hatte. Von da an begann eine Schleife, die ich bis heute noch nicht ganz einordnen kann.


Ob er da begonnen hatte, sich aufzugeben?
Im Juli 2014 begann er einen Schichtdienstjob in einem Großkonzern und wurde nach zwei Wochen entlassen, weil er am 1. Arbeitstag seine Arbeitsschutzschuhe vergaß und einmal verschlief und damit eine halbe Stunde zu spät auf Arbeit war. Die Entscheidung des Arbeitgebers war nachvollziehbar. Nur ich erkannte meinen Jungen immer weniger wieder.
Im August 2014 kam er über eine Zeitarbeitsfirma ins Callcenter. Ein Callcenter für Kundenreklamationen bei Waschmaschinen und sonstigen Küchengeräten. Was dort über Wochen und Monate an Druck ausgeübt wurde, ist mit Sicherheit nicht gesund gewesen. Er hat kaum noch geschlafen, kaum noch gegessen, dafür immer mehr geraucht. Mit 1,94 m ist er recht groß,  wog aber mit irgendwas in den 60 Kilo viel zu wenig. Und sah aus so aus. Das Gesicht fiel ein, die Augen wurden immer größer. Rollendes Schichtsystem rund um die Uhr – und die Ausgleichstage wurden meist auf dienstags und donnerstags gelegt – wenn er zum bekannten Nebenjob musste.
Die Vorgabe zum Schluss: 4,50 min für Telefonieren und Dokumentieren. Es reicht ja, wenn die Gespräche an sich passen – und du dann einen Kunden am Telefon hast, der dir 20 min lang das Ohr abkaut: Schnitt versaut. Aber mein Sohn… Er ist Servicemensch. Entgegenkommend. Zugewandt, freundlich, höflich. Aber das wird in der Branche eben nicht gesucht.
Er lag im Schnitt bei 6 min, zerriss sich fast an der Firmenphilosophie, mit der er sich nicht identifizieren konnte („Die Leute sind immer dazu zu bringen, den Monteur kommen zu lassen. Auch wenn ihr zehnmal den Fehler kennt.“) Trotz allem war er Vize bei der Auftragseinholung.
Er hat immer wieder gefragt: „Passt alles? Entlasst ihr mich, weil ich die Zielzeit nicht ganz schaffe?“
Sie haben geschmunzelt: „Was machst du dir denn immer für Sorgen und Gedanken? Mach doch einfach nur deinen Job, es passt schon alles.“
Unmittelbar danach kam im April 2015 die Kündigung.
Unmittelbar danach kam sein Absturz.
Er glaubt nichts mehr, er vertraut niemandem mehr. Er sagt von sich, dass er immer und überall scheitern wird.


Finanziell und mit seelischem Beistand konnte ich ihm helfen. Aber ihn aufzubauen, habe ich nicht wirklich geschafft. Weil ich alleine nicht alles bewirken kann. „Ich weiß, dass du mich liebst und zu mir stehst. Aber ich bin ja auch dein Sohn“, sagte er mal. Und ich weiß, wie er das meint. Nicht böse, nicht abwertend. Aber es hat einfach nicht DAS Gewicht für ihn. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater – bloß von da kommt eben kaum was außer Abwertung. „Du Asi“, „Du Versager“ und „wie du wieder rumrennst, schämst du dich gar nicht ein bisschen?“ etc. Ob und wie er oder überhaupt beide Söhne klarkommen mit ihrer Wohnung, die mal unsere gemeinsame war, bevor ich im Sommer 2014 in ein anderes Bundesland zog, interessiert weder den Vater noch sonst jemanden. Niemand weiß, wie viel Geld, Zeit, Kraft und vor allem Liebe ich da reingebe – auch ich weiß das nicht, weil ich mir sowas nicht notiere (im Gegensatz zu anderen).


Insbesondere, seit der Junge seit Mai 2015 in unserer Firma ist.
Wir hatten eine Stelle zu vergeben, weil der aktuelle Azubi ob seiner Arbeitsmoral nicht zuverlässig war, aber immer noch genug aufpasste, deshalb keine Kündigung zu riskieren.
Ich habe den Chef gefragt: „Wäre das dann nicht vielleicht eine Stelle für meinen Sohn? Mit Büroarbeit kennt er sich doch bisschen aus, da könnte er sich doch einarbeiten?“
Der Chef zögerte, stellte ihn dann doch ein.
Und es entwickelte sich zur kleinen Katastrophe.


Mein Sohn litt schon von klein auf an unter Komplexen und mangelnder Selbstsicherheit (ja woher sollte er die auch bekommen?), er entwickelte derart Versagensängste, dass dann erst recht nichts ging. Ich erinnerte mich an die Worte des Chefs in der 1. Ausbildung: „Er selbst ist sein größter Feind. Er selbst steht sich am meisten im Weg. Wenn er eine Aufgabe zu erledigen hat und kommt dann zu mir, ist sein erster Satz nicht „Schauen Sie mal, ich bin fertig“, sondern er sagt als allererstes: „Ich glaube, ich habs sowieso falsch gemacht.“
Die damals veranlasste Therapie schlug völlig fehl, weil der Junge sich nicht öffnete.
Das ist jetzt in der Therapie, die seit Februar 2016 läuft, ganz anders. Gott sei Dank.

Aber die Probleme häuften sich: Er schlief zu wenig, aß zu wenig, verkrampfte und das Zittern seines gesamten Körpers war unübersehbar. Das hat bei den Kollegen und beim Chef Unmut hervorgerufen, Unmut auch mir gegenüber: „Du haust ab in dein M. und lässt uns hier mit einem kranken Jungen zurück und erwartest von uns, dass wir deine Arbeit machen und deine Verantwortung übernehmen.“
Ja genau. Weil die Firma sich ja drum kümmert, dass die Jungs ausreichend essen, trinken, schlafen, genug Geld auf dem Konto haben, jemanden haben, der ihnen zuhört und Wege aufzeigt, der sich um ihre Wäsche und ihre finanziellen bzw. steuerlichen Sachen kümmert. Warum ich das so aufzähle? Weil ich mich verdammt so allein gelassen fühle damit, während das Umfeld nichts Besseres zu tun hat, als ihn zu beobachten und jeden seiner Fehler registrieren und „dokumentieren“ und mir im Gegenzug jede Woche vorwerfen, wie wenig ich mich kümmere, bloß weil ich nicht jeden Tag da bin. Sondern nur jede 2. Woche die drei, vier Tage. Ansonsten „verpisse“ [O-Ton Firma] ich mich nach M. und überlasse ja alles den anderen…


Wenn ich aber im Büro vor Ort bin, bin ich von 8 Uhr morgens bis 19 Uhr angebunden, bin nie vor 20 Uhr zu Hause und bekomme dann vorgehalten, ich hätte zu wenig Zeit für die Jungs… Ja genau. Dann lasst mich Dienst nach Vorschrift machen und 17 Uhr heimgehen. Nein halt wieso – wieso 17 Uhr? Laut Vertrag muss ich – seit ich in M. wohne – nur bis 15.30 Uhr arbeiten – mehr wird auch nicht bezahlt. Lustig, dass ich in den knapp 30 Monaten, die ich jetzt in M. wohne, nie 15.30 Uhr Feierabend habe. Sondern in der Regel zwischen 17 und 18 Uhr. Aber hier ist das ja egal, nicht wahr? Kann mich ja eh nicht kümmern von hier aus. Das ist so krank alles.

Apropos krank… Sohnemann leidet unter Morbus Basedow mit ausgeprägter Schilddrüsenüberfunktion und leider Gotten sämtlichen entsprechenden Symptomen. Das wissen nun die betroffenen Kollegen, sie wissen es von Anfang an, sie wissen auch von der im Februar diagnostizierten Depression. Sie wissen auch, dass er, je mehr er sich selbst unter Druck setzt, immer weniger effektiv leistet – sie haben auch schon die Überlegung angestellt, ob Sohn eventuell Autist sei. Weil er so verschlossen sei. Weil er in der Mittagspause die Musik in die Ohren stöpselt und gierig raucht, anstatt bei ihnen zu stehen und ihren Gesprächen zu folgen oder sich einzubringen. Weil er auch in Gemeinschaftsveranstaltungen nebenher ist, aber nicht dabei. („Wozu auch?“ sagte er letzte Woche zu mir, „ich flieg doch sowieso hier raus. Wozu dann erst Freundschaften aufbauen, die dann sowieso wieder vorbei sind?“) Zuletzt sogar auch in so einer Veranstaltung mit rund 50 Personen saß mit seinen Kopfhörern in den Ohren. Ja das ist ein No Go, das ist unhöflich – aber warum geht keiner hin und sagt „Du Großer, mach mal die Kopfhörer raus“? Weil er mit damals 26 das selber wissen muss?
Lieber hintenrum das Maul zerfetzen und den Chef ansticheln?
Keiner geht auf ihn zu. Auch dann nicht, wenn sie wissen, dass er nicht wirklich verschlossen ist, aber zu ängstlich, um das selbst zu tun.
Im Grunde… ist er ein ganz normaler junger Mann, wenn auch noch recht kindlich, der vor allem eines sucht: den Halt im Leben. Die Clique ist aufgrund interner Streitigkeiten auseinandergebrochen, der Bruder macht sein eigenes Ding. Mit 26 will man aber nicht mit der Mutter zum See baden gehen – sondern mit Kumpels. Das begreifen sie in der Firma nicht. Aber was soll ich noch tun? Im Juni 2015 habe ich ihn aufgrund seines Zitterns und des Ruhepulses von 100+ zum Arzt geschickt, da kam die Diagnose Morbus Basedow und die medikamentöse Behandlung bis September 2015. Seither werden nur noch die Blutwerte kontrolliert, mehr passiert dann erst mal nicht. Seit Februar 2016 die Verhaltenstherapie. Ihm tuts ganz gut, glaube ich, weil er weiß, dort kann er alles sagen, ohne egal wem wehzutun.
Aber sonst?


Ihm fehlt Anerkennung, Zuspruch und vor allem eine Freundin. Dass er für letzteres selber auch aktiv werden muss, weiß er – aber er schafft es aktuell nicht. Er kommt zwischen 16 und 17 Uhr nach Hause und ist froh, wenn er Ruhe hat. Zugleich spürt er mit der Ruhe aber auch das Alleinsein.
Sein Teufelskreis.


Eine Freundin von mir – selbst die Ruhe in Person – hat ihn letztes Jahr mal besucht, als er grad krankgeschrieben war wegen der Medikamenteneinstellung. Sie sagte: „Die erste halbe Stunde war er total hektisch und nervös, aber dann, als er merkte, ihm passiert nichts, wurde er immer ruhiger und entspannter. Der ist schon in Ordnung, dein Junge, wahrscheinlich sozialer und zuverlässiger als dein anderer – aber der macht sich kaputt mit seiner Unsicherheit.“ Waren ihre Worte.
„Ich schaffe es momentan einfach nicht mehr, mich selber zu motivieren“, sagte er im Juni 2016 zu mir. „Du weißt, ich war immer der totale Optimist. Aber jetzt habe ich nichts mehr, die Leute sind fast alle weg [aus seiner Clique] und mit meinem Bruder, das kannste ja auch total vergessen. Der Chef schmeißt mich sowieso bald raus, kann mir nicht vorstellen, dass er mich behalten will, nur für so bisschen Postbuch und Archivieren, die paar Rechnungen und Aufmaße, aber was dann werden soll, weiß ich auch nicht. In jeder anderen Firma wäre es ja auch nicht anders.“
Aber vielleicht doch? Wenn er in ein Team käme, das ihn annimmt, anstatt ihn zu beobachten und auf Fehler zu warten, die sie ihm dann hörbar für alle anderen vorwerfen können?

Es muss einen Weg geben und den gibt es mit Sicherheit auch.
Ich weiß grad nur noch nicht wie.


Und Stand heute ist: Die Schilddrüsenüberfunktion wird seit ein paar Monaten wieder medikamentös behandelt, die Verhaltenstherapie läuft derzeit wieder etwas engmaschiger und gestern erfuhr ich, dass der Arbeitsvertrag mit ihm zum 1. Mai gekündigt werden soll. Er weiß es noch nicht offiziell, denn er hat nächste Woche Geburtstag und das wolle man ihm nicht verderben. Man hat sich gegen ihn entschieden und stattdessen für jemanden, der in 3,5 Jahren weder fachlich noch menschlich von sich überzeugen konnte. Verstehen muss ich das nicht – ich will es aber auch nicht mehr.

Für meinen Sohn wünsche ich mir ein Leben mit Zuversicht, Anerkennung und Perspektive. Dass er wieder wissbegierig, entspannt und optimistisch wird wie früher als Kind. Das wünscht sich, glaube ich, jeder für sein Kind. Alles, was ich dazu tun kann, werde ich tun und geben und ich hoffe und wünsche sehr, dass es ausreicht, dass er seinen Weg findet und sich nicht aufgibt.

9 Kommentare

  1. Ich wünsche euch von Herzen alles Gute! Hoffentlich findet er seinen Platz in dieser Welt. (In Süddeutschland gibt es Manomama, ein sehr soziales Unternehmen. Für deinen Sohn vermutlich zuweit weg, aber vlt. gibt es bei euch in der Nähe noch Arbeitgeber, die mehr Wert auf den Menschen, als auf den Profit legen.)

  2. Antje sagt

    Es tut mir so leid, wenn ich diese Geschichte lese. Ich hoffe dein Sohn findet seinen Weg und die Anerkennung, die ihm gut tun würde. Dir wünsche ich viel Kraft.

  3. Steffi sagt

    Was ein Mist! 🙁

    Ich hatte in der Lehre auch einen Altgesellen, der nicht geschaut hat, ob wir’s richtig machen (um dann vielleicht sogar zu loben), sondern ob wir es falsch machen, damit er uns schimpfen konnte, wenn gerade ein Vorgesetzter durch den Raum kam. Immer und immer wieder. Und wenn es nur ein Fitzelchen war. Bei ihm war das Glas immer kurz vor leer, nie halbvoll.
    Wenn da noch mehr von der Sorte gewesen wären, so wie es sich für deinen Sohn anfühlt … der blanke Horror!

    Was mir jetzt noch einfiele, wäre Sport. Macht er da was? Irgendwas in Richtung Selbstverteidigung/asiatische „Kampfkunst“, um den eigenen Körper und das Befinden für sich selbst sowie die Selbstsicherheit zu stärken. Hilft bei Körperhaltung, Ausstrahlung … und dann evtl. auch in puncto Freundin. Allerdings nur, wenn der Trainer Bescheid weiß und entsprechend damit umgehen kann, ihn bestätigt, lobt und ihn nicht gleich als „Opfer“ für die Fortgeschrittenen zum Übern hergibt.

    • Anonym sagt

      Ich danke Euch allen für Eure Worte. Wenn ich meine eigene Geschichte selber lese, kommt auch mir alles ziemlich belastend, bedrückend vor, und ich arbeite im Moment sehr daran, dass es wieder leichter wird. Und schöner. Vor allem für meinen Jungen.
      Sport macht er seit Jahren keinen mehr, jedenfalls keinen in Gemeinschaft.
      Er sagt, er mag grad immer weniger machen. Er erträgt es nicht, allein zu Hause zu sein (der Bruder ist nur von freitags – sonntags zu Hause, jobbedingt), aber er hat aktuell auch keine Energie für die wenigen Freunde, die noch da sind. Im Moment zieht er sich mehr und mehr zurück.
      Nächste Woche bin ich die ganze Woche bei ihm. Auch, weil wir ein paar Termine gemeinsam in Angriff nehmen wollen und müssen. Ich will versuchen, ihn wieder für Gemeinschaftssport zu motivieren.
      Bislang läuft er „nur“, fast täglich und immer allein.
      Ich hab ihn auch mal gefragt, was er davon hielte, eine Patenschaft für einen Hund aus dem Tierheim abzuschließen, sich zu verpflichten, sich täglich um das Tier zu kümmern. Selber halten kann er ja keins, ist in dem Wohnhaus nicht erlaubt und sein Bruder außerdem Tierhaarallergiker. Aber bei seinem sozialen Wesen… Ich glaub schon, dass es ihm gut täte, sich um jemanden kümmern zu können, eine Aufgabe zu haben, die ihn fordert, ohne dass ihm ständig jemand sagt, was er alles nicht könne…

      Bei Manomama habe ich mal auf die Website geschaut. Jobangebote gibt es aktuell keine, nur Shops – auch in seiner Nähe.
      Ich bin trotzdem von Herzen dankbar für Eure Anteilnahme. Es motiviert mich da, wo ich innerlich grad einknicke. Wenn man keine Hoffnung und keine Zuversicht hätte, wie wollte man dann auch weitermachen? Aber aufgeben ist auch keine Option.
      Ich persönlich wünsche mir momentan am meisten, dass es mir gelingt, meinen Jungen durch diese schwierige Zeit zu bringen, ohne dass er sich komplett aufgibt. Er hat so viel an sich gearbeitet im letzten Jahr.

  4. Christina sagt

    Puh, ein langer und für mich anstrengender Bericht.
    Irgendwie dachte ich immer wieder, „jetzt muss es doch mal besser werden!“
    Es tut mir leid, dass ihr so ein kräftezehrendes Leben führt/führen müsst.
    Mehr kann ich dazu gar nicht sagen, außer, dass ich euch wünsche, dass es trotz allem bald dauerhaft besser wird!
    Alles Liebe Christina

    • Annika sagt

      Genauso habe ich es auch empfunden. Euch alles erdenklich Gute!

      Liebe Grüße aus Berlin

  5. Saskia sagt

    Puh, ich muss erst einmal tief durchatmen. Dir und deinem Sohn wünsche ich ein Umfeld, das euch anerkennend und wertschätzend gegenübertritt und nicht so defizitorientiert auf „Abweichungen“ von der „Norm“ orientiert.
    Viele Grüße Saskia

  6. Mein Herz tut so weh, wenn ich solche Berichte lese. Aus Mitgefühl und wegen gleicher Erinnerungen.

    Es wird besser, glaub mir – jeden Tag ein bisschen mehr.

Kommentare sind geschlossen.