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Mein Leben mit dem Besonderen #78 Wenn Feinde Freunde werden

Kling nach einer Allerwelts-Story.

Ist sie irgendwie auch. Nur, dass viele Menschen es gar nicht wissen.

Ich bin die Alex, 29 Jahre alt und war eine von aktuell 7,5 Millionen Menschen in Deutschland.

Eine große Zahl nicht wahr? Aber welcher Personenkreis wird diese Summe zugeordnet.

Mal sehen, ob Sie es herausfinden. Ich beschreibe einen ganz normalen Tag aus meiner Vergangenheit.

Der Wecker klingelt, ich bin nervös, denn heute steht die Sozialpädagogik Arbeit an. Das wird ein „Spaß“ werden.  Kurz bevor ich meine Wohnung verlasse, suche ich noch mein Spickzettel zusammen, auf dem ich mit unsichtbarer Tinte geschrieben habe. Bloß nicht den Schwarzlichtstift vergessen. Den restlichen Abend gestern habe ich schließlich damit verbracht Wort für Wort auf diesen Zettel zu schreiben. Habe gesucht und gesucht bis ich sie alle zusammen gejagt habe. Meine Feinde.

In der Schule haben meine Mitschüler alle Spickzettel, aber sie haben sich die Antworten abgeschrieben. Seltsam, noch nicht mal richtig spicken kann ich. Ich kenne doch die Antworten, schließlich habe ich gelernt. Aber meine Feinde hindern mich daran, sie zu Papier zu bringen. Wir werden herein gebeten, meine Aufregung ist nun ins Unermessliche gestiegen. Das leere Blatt liegt vor mir.

Als erstes kommt mein Name. Mir wird schwarz vor Augen. Wie war das nochmal A l e „x“ oder „z“? Ach verdammt, das mach ich später.

Die Fragen zu lesen ist eher nicht so schwer. Da kämpfe ich mich tapfer durch.

Aber die Antworten bzw. die schwiegen Wörter wie Trisomie, Integrationshelfer, und  Frühförderung bringen mich völlig aus dem Konzept. Ruhig Alex rede ich mit mir selber, unauffällig leuchte ich mit mein Schwarzlicht Stift auf mein anscheinend leereres Blatt. Doch es bringt nichts. Jetzt tanzen sie. Tanzen für mich den Tanz des Todes, die blöden Biester. Ein Blick auf die Uhr, nur noch zehn Minuten und ich habe noch nicht mal die Hälfte. Grenzenlose Panik und Selbsthass in seiner reinsten Form. Ich werde es nie schaffen.

Ring! der Wecker des Lehrers klingelt. Abgabe. Verdammt ich habe mein Namen vergessen. Also schnell.

„Alexßandra „wird schon stimmen.

Ich packe meine Tasche und gehe. Mich interessieren die restlichen sechs Schulstunden nicht. Ich muss hier weg. Luft, ich brauche Luft.

Auf dem Weg nach Hause im Bus das nächste Problem.

Die Busdurchsage funktioniert nicht. Jetzt muss ich schnell lesen. Die Gegend ist mir noch frem,d schließlich wohne ich erst seit einer Woche hier. Also schnell zusammenreißen und lesen.

„E..Esche“.. verdammt zu spät. Also steige ich aus und versuche den Rest zu laufen. Ich schreibe meine Straße vom Perso ab und frage Leute indem ich auf die gerade abgeschriebene Straße zeige. Heute schaffe ich nichts mehr. Mein Kopf tanzt Tango.

Zum Glück funktioniert der Trick immer. „Entschuldigung können Sie mir sagen wo diese Straße ist“. Dabei zeige ich mit dem Finger auf die abgeschriebene Straße. „Hubertusstraße“ na klar … jetzt hab ich den Namen wieder gehört und alles ist gut.

Können Sie sich vorstellen wer meine Feinde waren? Es waren Buchstaben. Ich konnte nicht richtig lesen und schreiben. Wobei lesen immer etwas besser ging, wenn der Stress nicht ins Unermessliche stieg.

In solchen Situationen konnte ich noch nicht mal meinen Namen schreiben.

Bei Klassenarbeiten habe ich schlecht abgeschnitten wegen der Rechtschreibung.

Keiner wusste es. Die Lehrer taten es als Faulheit ab.

Noch heute begleitet mich eine Legasthenie, die übrig geblieben ist. Es ist auch noch so, dass ich offizielle Dinge, wie Amtspost echt korrigieren lasse.  Denn meine Erfahrung zeigt, mit Rechtschreibfehlern wird man nicht so ernst genommen, manchmal sogar für „dumm“ gehalten und auch so behandelt.

An manchen Tagen hasse ich mich immer noch dafür, breche in Tränen aus. Gehört das richtige Schreiben doch so fest in unsere Gesellschaft wie Weihnachten.

Aber ich bin auch stolz. Ich habe es geschafft. Ich kann lesen und auch schreiben. Kann mich in die Welt der Bücher stürzen und Abenteuer erleben. Ich habe in all den Jahren mir vieles selbst beigebracht. Mit viel, viel Disziplin und Mut. Einiges wurde mir beigebracht. Aber dennoch fühle ich mich heute vollwertiger. Dabei ist es doch so schade, dass sich Menschen deswegen schämen müssen. Viel schöner wäre doch eine Gesellschaft, in der Betroffen mutig zu sich selbst stehen können, an die Hand genommen werden und man zusammen die Welt der Buchstaben erkunden kann.

Vielen lieben Dank fürs Lesen.

Hier noch ein Link für den der mehr wissen will.

20 Kommentare

  1. Durch ein persönliches Gespräch mit Katharina bin ich auf diesen Artikel aufmerksam geworden.
    Ich findes ihn sehr interessant geschrieben. Ich bin Mutter eines Sohnes, der auch unter seiner Legasthenie leidet. Er ist jetzt fast 12 Jahre alt und bekommt bereits seit 3 1/2 Jahren außerschulisches Training. Die Rechtschreibung hat sich schon sehr verbessert.
    Für mich als Mutter ist es schwierig nachzuvollziehen wie es sich aus Sicht meines Sohnes anfühlt!
    Gerade heute Morgen hat er wieder geweint, weil in der Schule der Vorlesewettbewerb stattfindet. Für ihn die Hölle!!!

    LG von Yvonne

    • Hallo Yvonne,
      ohja Vorlesen … das war die Hölle. Ich hab ealles dafür getan um nicht drann zu kommen.
      Ich wünsche deinen Sohn ganz viel Mut, sag ihn das er ein ganz toller ist, und das es besser werden wird.
      Liebe Grüße Alex

  2. Ein sehr schöner Beitrag.
    Ja, mein Vater kämpft auch gegen diese Feinde, nur wusste man in den Nachkriegsjahren noch nichts davon, meine Mutter hatte Angst ich könne es geerbt haben. Aber meine Feinde sind die Zahlen, davon wusste man leider 1978 im Gymnasium auch noch nichts, was habe ich Strafarbeiten geschrieben, jeden Tag, immer wieder, weil das EinmalEins, einfach nicht in meinen Kopf ging, rechnen kann ich ja, nur nicht im Kopf, dann tanzen bei mir die Zahlen, wie bei anderen die Buchstaben. Trotzdem bin ich Banker geworden, hahaha, das Leben schreibt die besten Geschichten und heute stehe ich dazu und ernte trotzdem Unverständnis, weil ich angeblich einfache Dinge nicht kann, doch ich liebe die Perfektion des Unperfekten. (und meinen Taschenrechner)

  3. Danke Alex, dass du das mit uns mitteilst! Wie schön dich wieder zu lesen. Ich mag dein Stil und bewundere deine Begabung und die Arbeit, die dahinter steckt.
    Wir brauchen Menschen wie du, die das nicht mehr verstecken wollen, die Mut haben und sich wie du engagieren, damit es in der Gesellschaft kein Tabu mehr wird!
    Bis Bald

  4. Andrea sagt

    Ich habe in der Schule normal Lesen und Schreiben gelernt. Dabei hatte ich Glück in der Grundschule eine aufmerksame Lehererin zu haben, sie stellte die Legasthenie fest. Sie traute mir auch trotz Legasthenie die Realschule zu. Durch die „Diagnose“ zählte bis zur 7 Klasse meine Diktate nicht zur Deutschnote mit. Mein Glück denn ich hatte immer eine 6, nur ein Mal schaffte ich es eine 5,8 zu haben und war mächtig stolz! Durch die Stunden im Legastheniezentrum habe ich bei meinen größten Baustellen die Regel und Ausnahmen dazu gelernt. Ich mache weniger Fehler, aber immernoch genug.

    Ich machte mein Abitur mit Auszeichnung, studierte Ingenieurswesen mit Auszeichnung und schreibe derzeit an meiner Doktorarbeit.
    Alles was ich schreibe lese ich mehrfach durch und überlege ob alles richtig ist (Auch das hier). Wichtige Sachen lass ich Korrektur lesen. Die Rechtschreibprüfung im PC ist mein Freund.

    Liebe Grüße Andrea

    • Hallo Andrea,
      sehr gut, das du so eine Lehrerin hattest. Sie sind selten.
      Ihr seid alle echt klasse. Es müssten mehr Leute wissen das man trotz dieses kleinesn „Hindernisses“ vieles schaffen kannn.

  5. Carina sagt

    Das ist ein wirklich toller Artikel. Du hast einen echt tollen Schreibstil.
    Danke für den Einblick in deinen Alltag und die Beschreibung deiner Legsthenie. Für nicht-Legastheniker wie mich ist es echt schwer sich vorzustellen, wie sehr dies den Schulalltag, etc. erschwert.

    LG Carina

  6. Knodel Inge sagt

    Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen bei dem Einen ist es etwas größer und ein Anderer hat nur ein kleines was ihm zu schaffen macht. Heute kann der PC fast jedem helfen der eine Rechtschreibschwäche hat. Wichtig ist doch, dass man einen lieben Menschen kennt (Familie oder jemand fremdes) der einem helfen kann. Man darf sich nur nicht verstecken. Steht zu euren kleinen Schwierigkeiten, sie tun nicht weh und man kann auch gut damit leben. Es gibt auch spezielle Einrichtungen die einem weiterhelfen können. Es gibt keinen perfekten Menschen.
    Liebe Grüße

  7. So schlimm ist es bei mir nicht. Bei mir sind allgemein Sprachen die Hölle. Zahlen sind dagegen meine Freunde 😀

    Aber durch diese Angst, dass man eh nicht richtig schreibt und daher eh eine schlechte Note bekommt, hat sich ziemlich festgesetzt, ich denke, dass ich daher auch noch heute Prüfungsangst habe. Dabei sind die meisten Uni-Prüfungen nur Ankreuzen am PC xD Aber die Angst bleibt.
    Das gleiche ist beim Sprechen. Ich habe Angst mich nicht in Worte fassen zu können. Ich schreibe (kurioserweise) lieber. (Gleiche beim Telefonieren, Emails/SMS sind besser)

    Mein Freund hat auch Legastenie (Welch Ironie, dass ich nicht mal weiß wie es richtig geschrieben wird…) , daher geht unsere Sohn auch in den Förderunterricht für die Rechtschreib-Lese-Schwäche, einfach zum vorbeugen und da es aussieht, als habe er auch mit den Worten Probleme.

    Aber lesen, lesen war schon immer meine Welt (und ich bin sogar Betaleserin und lese ruhfassungen, erkenne Sinnfehler und ja sogar Rechtschreibfehler! Ganz komisch xD)

    Aber ja, man muss sich heute immer wieder Rechtfertigen und ich hab auch oft zu hören bekommen, das sein erfundene Krankheiten, man ist nur zu faul es richtig zu lernen…

    Naja…

    • Liebe Sabrina,
      vielen dank für deinen Kommentar. Wow Betaleserin, das ist großartig. Da hat jemand aber viel vertauen in dir.

  8. Theresa sagt

    Toller Artikel – Meine größte Bewunderung für dich und für alle, die sich trotz der Feinde durchs Leben bewegen.

  9. Das ist ein toller Artikel! Ich habe in der letzten Zeit viel mit Legasthenie zu tun gehabt und darüber nachgedacht, denn ich hatte grade vor kurzem eine wunderbare Erfahrung mit einer anderen Mutter.

    Wir beide sind Klassenelternsprecher, ich bin Vertreterin. Ich habe es nur gemacht, weil ich wusste, dass die andere Mutter sehr nett ist, intelligent, witzig, kann sich in Gruppen gut vertreten. Ich habe Probleme damit, mich in Gruppen und somit Sitzungen gut zu vertreten, denn ich bin Autistin. Fällt mir halt schwer, auch wenn ich im normalen Leben irgendwie funktioniere.
    Also habe ich mir die Mutter eingeladen, und bei einem Kaffee habe ich von meinen Schwierigkeiten erzählt, und dass ich die Vertreterstelle wirklich nur angenommen habe, weil ich sie mag und weiß, wir können miteinander umgehen.
    Woraufhin sie mir gestand, dass sie sich nur widerwillig bereit erklärt hat, vorher abgesprochen mit anderen Eltern, denn eigentlich hat sie eine wahnsinnige Angst davor, Briefe an die Eltern rauszugeben. Sie selber ist Legasthenikerin und weiß nie so ganz, ob das, was sie geschrieben hat, so auch in Ordnung ist.
    Das ist aber etwas, das ich wirklich gut kann (meistens 😉 ). Also haben wir festgestellt, dass wir uns wunderbar ergänzen- sie macht den Teil, in dem es ums reden und um Eltern- und Lehrerkontakt geht, und ich bin für den schriftlichen Teil zuständig.
    Schwächen? Klar haben wir Schwächen, jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber unsere Stärken ergänzen sich so gut, dass wir ein perfektes Team sind- und möglicherweise eine kleine private Selbsthilfegruppe. ^^
    Ich hätte nie gedacht, dass ich so froh sein würde, einen Elternratsposten übernommen zu haben!

    Leute, guckt nicht auf das was andere NICHT können, guckt auf das, worin sie gut sind! Und helft Euch gegenseitig. Das ist ein richtig großartiges Gefühl! <3

    • Vielen lieben dank, für deinen so ausagekräftigen Komenntar, und das dir mein Ausschnitt aus meinem Leben gefallen hat. Ihr seid ein ganz großartiges Team.

  10. Es ist traurig, dass die Gesellschaft immer vom Perfektionismus ausgeht, weicht man in irgendeiner Form ab, ist man nicht normal, fehlerhaft und dumm. Dies begleitet mich auch in meiner Arbeit mit Jugendlichen, viele von ihnen haben Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben, doch bringen sie viele andere Stärken mit und das ist das Wichtigste, auf seine Stärken zu achten. Sich bei seinen Schwächen Hilf zu holen und stolz darauf zu sein auch als nicht perfekter Mensch doch durchs Leben zu kommen!
    Liebe Grüße und alles Gute!

    • Das ist auch die Erfahrung, die ich immer wieder im Umgang anderer mit Sonea feststelle. Da sie sprachlich einige Barrieren hat, wird sie gerne unterschätzt. Das ist ein gesellschaftliches Problem und leider fest verankert.

      Liebe Grüße

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