Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #45 Was „es“ mit mir macht

WUT
Mein Sohn, mein Erstgeborener, mein Stammhalter, mein Wunschkind, mein Augenlicht, mein Stern, mein Mottenkäfer – ist „behindert“. BAH, was für ein Wort! Und welch elendig langer Weg bis zur Akzeptanz desselbigen.
Also ICH akzeptiere es, mal mehr, mal weniger.
Und dennoch macht es mich unglaublich WÜTEND !!!
Doch gegen wen richtet sich die Wut einer Mutter, deren Kind so feine und doch massive Störungen mitbringt? Gegen „das Schicksal“? Ja, in besonders schwachen Momenten auch das. Aber im Alltag bin ich wütend auf reelle Menschen! Diese Art Behinderung akzeptieren ist kein Leichtes, das ist mir sehr schmerzhaft bewusst. Aber verurteilt man jemanden, nur weil man das was ihn beeinträchtigt nicht sehen oder skalieren kann?
Unser Umfeld reagiert mit Augenrollen, Glotzen, Lästern, bösen Worten und Gezischel. Fremde motzen mich an, mischen sich ein, beleidigen uns. Details erspare ich euch. Und keiner von denen hat einen blassen Schimmer, was für ein Kind sie da vor sich haben. Aber es fragt auch niemand!
Selbst die eigene Familie steht dem nicht-gesellschaftstauglichen Verhalten verständnislos gegenüber.
Und als wenn all diese Schmach, die Dummheit und Ignoranz der Leute nicht ausreichen würde, kommen dann die „Fachleute“ und die „Ämter“ dazu. Sie schüren Hoffnung um sie am nächsten Tag wieder zu rauben. Sie geben Tipps, die nicht praktikabel sind. Sie verlangen Dinge, die ich nicht leisten kann – die J. nicht leisten kann. Sie werfen uns bürokratische Steine, nein Gebirge vor die Füße und machen Vorwürfe, wenn wir darüber stolpern. Sie sagen: „SO geht es nicht!“ Auf die berechtigte Frage: „Wie dann?“ … Schweigen! Sie behandeln mich wie eine unintelligente, asoziale Frau. Um hintenraus festzustellen, dass ich ihnen Antworten geben kann auf Fragen, welche sie erst morgen stellen.
Und ja, ich bin auch wütend auf J.
Womit wir direkt, ohne Umschweife, zu Emotion Nummer 2 kommen:

SCHAM
Ich schäme mich für meine Wut auf meinen kleinen Jungen. Denn er kann nichts dafür. Das ist Fakt! Leider – denn das bedeutet mit Pädagogik kommt man hier nicht weit.
Ich schäme mich ebenso für mein eigenes Fehlverhalten. Denn das ist da. Ja, ich weiß, es ist eigentlich nur menschlich. Wer kann 24/7 kompetent handeln? Ich bin seine Mutter, ich bin so nah dran wie niemand sonst.
Ich schäme mich aber auch für mein Kind. Manchmal. Wenn er respektlos ist, „dumm“ oder frech. Und für die Geräusche die er macht.
Und dann schäme ich mich für meine Scham, richte mich auf, lege einen Arm um mein hübsches Kind und küsse ihm ein „Ich liebe dich“ auf’s Haar.

SCHULDGEFÜHLE
Bin ich Schuld? Ärzte haben mir versichert, das was J. an genetischer Disposition mitbringt, macht schon das Gros der ganzen Problematik aus. Okay. Aber hätte ich es ihm trotzdem irgendwie leichter machen können? Bevor ich in der 7. Woche von der Schwangerschaft erfuhr habe ich geraucht. Warum habe ich es nicht sofort sein lassen, als wir die Pille absetzen? Es war mir leider nicht möglich, natürlich zu entbinden und so musste J. per Notkaiserschnitt geholt werden. Und nach 12 Stunden auf dieser Welt wurde er in ein Kinderkrankenhaus verlegt, weil er zu niedrige Zucker- und zu hohe Entzündungswerte hatte. DREI Tage keine Mutter-Kind-Bindung. Denn ich durfte nicht mit – der Kaiserschnitt… Als der Kleine gerade 2 war, trennten wir, seine Eltern, uns. Ein weiteres Trauma? Viele Umzüge haben wir bereits zusammen vollzogen, dabei braucht gerade ein solcher Zwerg doch hauptsächlich Beständigkeit zum Wurzeln schlagen. AD(H)S (seine größte Baustelle) ist nachweislich vererbbar.
Bin ich also Schuld?

TRAUER
Ich trauere um meine Wunschvorstellung von meinem Kind. Auch wenn ich es früher vehement abgestritten habe, so hatte ich dennoch Erwartungen an diesen Menschen. Zwar war mir egal, was er beruflich einmal wird, wen er liebt, wo und wie er lebt. Aber ich erwartete einen sozialen Menschen mit Freundschaften, einen Menschen, der integriert ist in das Leben, welchem ich meine Werte mitgeben kann. Von all diesen Wünschen muss ich mich verabschieden. Ganz will mir das noch nicht gelingen. Wenn mir die Fachleute sagen: „Ihr Sohn wird höchstwahrscheinlich an keiner Regelschule bestehen, keinen Abschluss machen und keinen Beruf erlernen.“ Ja, dann werde ich fast ein wenig trotzig. Das werden wir ja sehen! Und selbst wenn er es nicht schafft, ich würde ihn hintergehen, wenn ich die geringe Chance, dass er es schafft, nicht einmal in Erwägung zöge.
Es macht mich ebenso traurig zuzusehen, wie so unglaublich vieles, was für mich Kindheit und Wachsen bedeutet einen Bogen um J. macht.

ROLLENVERSCHIEBUNG
Ok, dieser Punkt beschreibt keine Emotion, dennoch möchte ich euch davon schreiben.
Ich bin seine Mutter. Das definiere ich mit Vorbild sein, erziehen, lenken, für das Leben vorbereiten und ihn zur Not hineinschubsen, bedingungslos lieben, miteinander Spaß haben, diskutieren, philosophieren. Und auch wenn einiges davon selbstverständlich zu meiner derzeitigen Tätigkeitsbeschreibung zählt, ist da auch noch mehr: Ich bin zu einem Riesenprozentsatz die Betreuerin und Anwältin meines eigenen Kindes. Das ist gelinde gesagt ungesund. Für unsere Beziehung, für seine Entwicklung, für mich.
Und etwas darf man nicht ausser Acht lassen, bzw jemanden: Die kleine Schwester! Die mit 23 Monaten schon unglaublich selbstständig ist. Einfach weil sie muss. Sie wird einmal ihm die Hand reichen und zeigen wo das Leben langgeht, anstatt dass er sie zu ihrem ersten Diskobesuch begleitet.

EINSAMKEIT
J. ist einsam, aber bisher scheint ihm das viel weniger auszumachen als mir.
Wer aber wirklich einsam ist, das bin ich. Ich habe keinen Partner an meiner Seite und einen neuen finden scheint mir eine unüberwindbare Aufgabe in meiner Situation. 1. Wo finden, wenn man nie allein irgendwo ist? 2. möchte ich einen potenziellen Kandidaten erst einmal allein „abchecken“, bevor ich ihn meinen Kindern vorstelle. Aber wann? 3. Ich bin sehr feinfühlig geworden. Mr. Right müsste eben nicht nur mit mir und meinen (hoffentlich überwiegend liebenswerten) Macken umzugehen wissen, sondern eben auch mit beiden Kindern!
Neben einem Partner fehlen aber auch Familie und Freundschaften. Es ist schwer, Kontakte zu pflegen, wenn man permanent 100% der Aufmerksamkeit auf diesen einen kleinen Menschen richten muss.
Und ich fühle mich allein in meiner Situation. Das Internet hat mir zwar andere betroffene Familien in ganz ähnlichen Schwierigkeiten gezeigt, aber einen echten Kontakt und Austausch gibt es meiner Meinung nach nur „live“.

ZUKUNFTSÄNGSTE
Kann ich unsere kleine Familie beisammen halten? Oder kommt irgendwann der Punkt, wo ich uns räumlich trennen muss? Also vor dem „natürlichen“ Zeitpunkt meine ich.
Kann ich irgendwann wieder einer (geregelten) Arbeit nachgehen? Momentan ist daran mit den 2 Stunden Fremdbetreuung am Tag nicht im Entferntesten zu denken.
Wird J. irgendwann genug gelernt haben, um allein leben, sein ganz persönliches Glück finden können?
Wird meine Tochter Y. nachhaltig an der Familiensituation zu tragen haben?

ENERGIEVERLUST
Es zehrt unglaublich dieses Leben. Ihr könnt euch das nicht vorstellen.
Wenn ich schrieb, er benötigt 100% meiner Aufmerksamkeit, dann ist es genauso. Und zwar, weil es um seine bloße Sicherheit geht. Mit keinem Gefahrenbewusstsein und ohne einer Vorstellung von den Gefühlen anderer tingelt J. einfach so durch seine Welt. Geht wohin er will ohne sich umzublicken. Bleibt stehen und fummelt an Dingen, die ihn interessieren, ohne Rücksicht auf das Drumherum. Klettert auf 6 m hohe Tannen, wieder und wieder. Läuft bei rot los oder steigt einfach mal ohne Vorwarnung aus der Bahn – einfach weil er es „nicht mehr ausgehalten“ hat.
Ich muss alles (!) ständig wiederholen. In der konkreten Situation (z.B. das Anziehen) und jeden Tag auf’s Neue (z.B. das Anziehen „wink“-Emoticon Ich verrate euch etwas: Das macht kirre. Und müde.
Apropos müde: J. ist es nicht. Jedenfalls nicht abends, nicht seitdem er die Medikation bekommt. Vor 23 Uhr ist an Einschlafen nur zu denken, wenn er in meinem Bett neben mir liegt.
Wenn er dann endlich schläft, muss ich selbst erstmal mein eigenes Träumeland finden. Des nächtens kommt dann irgendwann die Lütte und um 6 ist die Nacht beendet. Dann beginnt der neue Tag mit demselben Kampf wie das Gestern. Gegen das eigene Kind, gegen die deutsche Bürokratie, gegen das Unverständnis der anderen, gegen das Aufgeben.
Und dann sind da die Korrespondenzen mit all diesen Institutionen. Immer auf’s Neue. Über 20 Seiten Anamnese-/Elternfragebögen, immer wieder. Telefonate, Anträge, Bestätigungen derselbigen, Vermitteln zwischen all diesen und dem Kindesvater.
Dies alles ist sehr sehr schwer durchzuhalten, auch als intelligenter, informierter Mensch.

HOFFNUNGSACHTERBAHN
Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Das Diagnosenlabyrinth erspare ich euch heute, vielleicht drösel ich das mal in einem separaten Beitrag auseinander. Aber als das AD(H)S feststand, kam alsbald die Frage: Geben wir ihm Medikamtente? Und nach dem „ja“ ist man noch lange nicht durch mit diesem Thema. Da muss dosiert werden, das Medikament gewechselt, die Nebenwirkungen abgewogen.
Der Kampf um den Schulbegleiter, großzügig gesehen besteht er seit Sommer 2013. Kann er mit dieser Hilfe eine Regelschule besuchen? Oder müssen wir selbst an einem Absolvieren der Förderschule zweifeln?
Therapien!?!? Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Elterntraining…
Was passiert in der Pubertät? Fällt dann alles in sich zusammen oder macht auch mein Kind einen positiven Entwicklungsschub?

STOLZ
Spitzt gut die Ohren, bzw. putzt die Brillen, denn jetzt erzähle ich euch mal, was mein Sohn auch ist:
Er ist total gern hilfsbereit! Für einen Menschen, den er mag opfert er sich auf.
Phantasie und Kreativität sind fester Bestandteil seiner kleinen großen Persönlichkeit.
Wenn man es gar nicht erwartet, haut er unglaublich tiefsinnige Philosophien raus.
Und auch wenn es häufiger nicht klappt, so hat er doch manchmal einen wundervollen Blick auf die Menschen und in ihre Herzen. Er weiß genau um die Theorie des Seelenvogels.
Vor allem in der Grob- und Feinmotorik hat J. in den letzten 1,5 Jahren unglaublich viel aufgeholt.
Ich kann ganz objektiv behaupten: J. ist wunderschön!!! (innen wie aussen)
Last but not least bin ich stolz auf mich selbst!

LIEBE
Unter’m Strich das was bleibt, zählt und pusht.

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Mehr über und von Anna erfahrt Ihr auf ihrem Blog a special kind

9 Kommentare

  1. Claudia sagt

    Nachdem ich gerade am Wochenende von einem Seminar mit Thema „Kinder mit Entwicklungsverzögerungen“ zurückkomme, fasst dieser Beitrag einer betroffenen Mutter alles zusammen.
    Wut, Schuld, Scham, Hoffnung, Angst und vor allem Liebe. Wir Nichtbetroffenen können in keinster Weise nachvollziehen, was eine solche Einschränkung für eine Familie bedeutet.
    Meinen tiefsten Respekt dieser Mutter, die mit soviel Achtsamkeit und Respekt dieses kleine Familienunternehmen leitet.
    Danke für diesen wundervollen Einblick und alles Gute für die Zukunft…
    LG
    Claudia

    • Hallo Claudia!
      Du hast Recht, das Nachvollziehen ist der „Aussenwelt“ gar nicht möglich. Aber das freundlich zugewandte Lächeln, Verständnis und mehr Toleranz, das können wir uns gemeinsam erarbeiten.
      Danke, dass du dabei mithilfst.

  2. Sonja sagt

    Liebe Anna, Danke für deinen tollen Worte! Habe eine Tochter (11) die AD(H)S hat. Wusste von Anfang an, dass sie „anders“ ist. Lebt in ihrer Welt und wir üben, dass sie auch immer besser auch in unserer Welt sein kann. Es wird!!!!Musste lächeln bei deinen Worten wegen jeden Tag: „M.,bitte Zähneputzen, Haare kämmen,geh aufs Klo!“Jeden Tag aufs neue. Uns hat Reitherapie und Mate Meo sehr geholfen. Schau auf dich!!!!!!!!! Diese Kinder suchen sich starke Frauen!! und dein Sohn hat Glück, dass er bei dir ist!!!!!! Viel Kraft
    Sonja

    • Danke Sonja!!!
      Ja, jeder Tag ist ein neuer Kampf, aber einer den es sich zu kämpfen lohnt!
      Ich wünsche auch dir und deiner Tochter viel Kraft, Geduld und Liebe.

  3. Liebe Katharina!
    Ich möchte dir von Herzen danken, dafür dass du Sonea’s Blog nutzt, um uns anderen eine Plattform zu schaffen, sich der Welt mitzuteilen.
    Für mich persönlich ist das Schreiben über uns eine ungeheuer starke, tiefgehende Form der Therapie! Jede Minute meines Atmens versuche ich stark zu sein, mich und meine Lieben nicht fallen zu lassen. Nur wenn ich darüber schreibe, fließt Träne um Träne und ich nehme mir bewusst die Zeit und den Rahmen, schwach zu sein, um uns, um mich (!) zu trauern. Ich versinke im Reich der Seele, des Spürens. Und wenn ich den letzten Punkt gesetzt habe, fühle ich mich wie nach einer dreistündigen Erste-Hilfe-Rettungs-Aktion. Und das ist gut!
    Wenn ich zusätzlich einen oder zwei Menschen erreichen kann, Mut machen und das Gefühl des Alleinseins mindern kann, dann ist es umso besser!
    Danke, dass du hier bist und es ebenso verarbeitest, das Leben mit dem Besonderen.
    Und wenn man genau hinsieht, dann stellt man unweigerlich fest:
    Es gibt so viele verschiedene Menschen der Kategorie „Besonders“, dass letztendlich diejenigen, welche ohne Besonderheit sind, die Besonderen darstellen, da es von ihnen doch nur eine sehr überschaubare Anzahl zu verzeichnen gibt.
    Gott sei Dank möchte ich fast sagen, denn schnöde Gleichheit wäre unser aller Ende 😉

  4. Sandra sagt

    So schön und ehrliche geschrieben. Ich konnte mich so richtig gut in die Rolle der Mutter hineinversetzen. Ich arbeite mit Kinder die eine Behinderung haben. Und manchmal vergisst man als Pädagoge das Eltern weit mehr tragen als man von außen sieht. Respekt kann ich da nur sagen.

    • Hallo Sandra!
      Ich bin selber auch Pädagogin. Habe also Einblick aus beiden Richtungen. Das hilft mir oftmals, die Fehlbarkeit der Fachleute nachzuvollziehen, so rein vom Verstand 😉 Mein Mutterherz schreit natürlich: „Das ist mein Baby! Seid gefälligst perfekt in eurer Arbeit und macht es mir wieder heile!“
      Aber niemand, nicht mal der Kindsvater, hat mein Herz und damit meinen Schmerz in seiner Brust. Mit solchen Beiträgen wünsche ich mir, den Leser ein klein wenig offener zu machen für das Gegenüber. Bei dir scheint das gelungen und das freut mich sehr! Danke, dass du als „Fachfrau“ immer wieder einen Schritt zurück trittst und das große Ganze anschaust.
      Liebe Grüße Anna

  5. Vanessa sagt

    Das nenne ich mal einen ehrlichen Einblick! Nicht alles wird schön geschrieben und auch negative Gedanken/Enttäuschungen haben Platz! Respekt und viel Mut!
    LG
    Vanessa

    • Danke Vanessa!
      Tatsächlich war mir die ganze Woche zum Verfassen des Textes bis zu seiner Veröffentlichung mulmig, eben weil ich nichts beschönigt habe und das Unschöne auch ein Stirnrunzeln über mich als Mutter auslösen kann. Aber ich habe mich bewusst dafür entschieden. Denn wir sind alle was wir sind: emotional!

      LG Anna

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