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Mein Leben mit dem Besonderen #30 Warum ich gerne mal ein „scheiß Arschloch“ bin

Mein Name ist Ann-Kathrin, ich bin 22 Jahre alt und studiere im dritten Semester Heilpädagogik. Nein, nicht Halbpädagogik und auch nicht Pädagogik, sondern Heilpädagogik. Ja genau das, wo man nachher die ganze Zeit mit Menschen mit Behinderung arbeitet.

So oder so ähnlich hört es sich oft an, wenn ich gefragt werde, was ich denn studiere. Danach kommt meist direkt die Frage: „Und das mit deinem guten Abitur? Warum studierst du nicht Medizin oder Jura oder Psychologie*? Leute, die mit Menschen mit Behinderung arbeiten, bekommen doch immer so wenig Geld! Das ist dein Abitur doch nicht wert. Außerdem ist das doch mega anstrengend und dann diese Kinder mit den emotional-sozialen Auffälligkeiten.“

Warum nur? Weil es für mich keine schönere Arbeit gibt!

Schon ganz früh kam ich durch die Arbeit in der Katechese der Kirchengemeinde mit Kindern mit Behinderung in Berührung, ich habe die Arbeit mit ihnen geliebt und tue das immer noch. Schnell war mir klar, das möchtest du später machen, diese vielen wertvollen Momente erleben. In meinem einjährigen Praktikum in einer heilpädagogischen Kindergartengruppe wurde dieser Wunsch immer weiter verstärkt. Aber warum?

Natürlich ist es anstrengend, ich werde gehauen, getreten und geschubst. Ich wechsele gefühlt 100 Windeln am Tag, oft genug übergelaufen, weil wieder ein Kind Durchfall hat. Ich werde angehustet, angespuckt und an meinen Anziehsachen kann man nicht selten ablesen, dass es rote Beete oder Spinat zu Mittag gab. Ich bin manchmal „voll gemein“, mache „dämliche Regeln“ und bin sowieso „ein scheiß Arschloch“! Einer der Lieblingssätze eines Jungen, der die Schule besucht, in der ich neben meinem Studium arbeite.

Und all das bin ich gerne, denn dafür werde ich auch vor Freude umgehauen und umarmt, wenn die Kinder den Raum betreten. Wenn ich eine Woche krank bin, dann wird gefeiert als ob ich im Lotto gewonnen habe, wenn ich den Raum wieder betrete. Mein Geburtstag ist das Highlight aller Kinder und sie zählen mir jeden Tag am Kalender vor, wie oft ich noch schlafen muss. Ich bin dann „der beste Mensch der Welt“ oder auch „die allerbeste Freundin“ und mache „überhaupt die allerbesten Sachen.“

Es sind diese winzigen Momente, die den Alltag mit diesen besonderen Kindern zu einem unendlichen Schatz machen. Das Kind mit dem inoperablen Gehirntumor, das seine ersten wackeligen, tapsigen Schritte macht, obwohl dies den Prognosen der Ärzte völlig widerspricht. Dieser sechsjährige Junge mit geistiger Behinderung, der vom einen bis zum anderen Ohr strahlt, weil er es mit der lange geübten Technik „pieks und schneid“ zum ersten Mal geschafft hat, seine Bratwurst ganz alleine zu schneiden. Die beiden Mädchen mit denen ich auf einer Matte und einer Dose Creme im Waschraum sitze und die sich des Lebens über die Schmiererei freuen. Die Freude, wenn das erste Mal das Wort „Apelborle“ über die Lippen des Mädchens mit einer schweren körperlichen und geistigen Behinderung kommt. Und übrigens kann ich mit dem Himmel telefonieren, denn von dort ruft meine Mama regelmäßig bei einem der Kinder an.

Das alles macht diese Arbeit so wertvoll, viele kleine Menschen darf ich an die Hand nehmen und ein Stück ins Leben begleiten. Ihnen helfen, Barrieren zu überwinden und an den vielen kleinen und großen Fortschritten teilhaben. Ihnen das Leben erleichtern und sie vor Herausforderungen stellen, die sie wachsen lassen.

In diesem Sinne bin ich dann lieber „ein scheiß Arschloch“ als Richterin und bekämpfe lieber den imaginären bösen Papa in unserem Waschraum als eine Operation durchzuführen. Gegen ein bisschen mehr Geld hätte ich natürlich nichts ;-), aber das steht auf einem anderen Blatt.

*Dieser Satz ist lediglich ein persönlich verwendetes Zitat vor meinem persönlichen Hintergrund und soll in keinster Weise die Abwertung der genannten Berufsgruppen bedeuten!!

12 Kommentare

  1. Ani Lorak sagt

    Ein schön zu lesender Post! Gefällt mir!! Danke dafür, dass Du das liebst, was Du tust. Ich könnte es nicht, aber ich kann vieles nicht. Dafür bin ich Büromensch, jongliere mit Zahlen und bin froh und dankbar, dass wir unterschiedliche Neigungen und Stärken haben. Ich wäre mit Deinem Beruf auf Dauer nicht glücklich aber Du mit meinem auch nicht. Bedauerlich finde ich es, dass leider die Berufe mit Menschen nicht gewürdigt und auch nicht hinreichend bezahlt haben. Eigentlich verwunderlich, dass der Mensch ob jung (Kita) oder alt (Altenheim) oder krank (Krankenhaus) keine Lobby hat. Wir solltrn das alle unterstützen! Alles Liebe für die Zukunft

  2. Daniela sagt

    Hallo zukuenftige Kollegin,

    auch ich habe vor ueber zehn jahren meinen Abschluss als heilpaedagogin gemacht und arbeite jetzt in einer tageseinrichtung fuer schwerst mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche. Oft muss ich mir auch saetze anhoeren wie: ich koennte das nicht oder das ist bestimmt nicht einfach; dann sollen die Leute doch einfach gar nichts sagen, dass macht mich so wuetend. Ich mache diesen Beruf fuer die kleinen unbezahlbaren Augenblicke und wie oft habe ich schon weinen muessen, unbezahlbar und ich weiss, dass diese Menschen die aufrichtigsten und ehrlichsten sind und ich so sein kann wie ich bin und mich nicht verstellen muss. Ich wuensch dir ganz viel Erfolg und Spass in deinem zukuenftigen Beruf.
    Daniela

  3. Hanna sagt

    Liebe Ann-Kathrin,

    toll dass es so Menschen wie dich gibt! Was wäre unsere Welt nur ohne euch…
    Ich wünsche dir alles Liebe und ganz viele dieser kleinen, besonderen Momente für dein weiteres Berufsleben!

    Liebste Grüße,
    Hanna

  4. Dani sagt

    Das kommt mir sehr bekannt vor. Alles.
    Ich wurde selbst in Vorstellungsgesprächen gefragt, warum ich mich den nicht für Medizin oder BWL entschieden hätte…
    Im privaten Bereich höre ich heute noch oft „das könnte ich nicht“ oder „aber das ist ja alles so belastend“…
    Sehr schön geschrieben!

  5. Nadine W. sagt

    Danke für diesen Artikel. Einfach mal schön nach dieser Arbeitswoche einen Menschen „kennenzulernen“ der Werte kennt und vermittelt und eine Begeisterung für solch wichtigen Beruf hat. Diese Worte taten gut und eine Bereicherung für jedes einzelne Kind welches Ann-Kathrin betreut.

    Danke und weiter so mit dieser Kategorie
    Nadine

  6. Ellen sagt

    Danke für den tollen Post!
    Danke – Danke – Danke dafür, dass du all die Tritte auf dich nimmst 😉
    Dass „besondere“ Menschen einen eine unbeschreibliche Liebe zurückgeben wissen leider viel zu wenige.
    Ich wuchs in den 60ern auf (seinerzeit wurden Menschen mit dem „besonderen“ ja eher „weggesperrt“). Walter unser Nachbar war seinerzeit schon „groß“ (20 Jahre älter als ich), aber es war soooo toll mit ihm. Er hat mit uns gespielt, sich gefreut wenn wir aus der Schule kamen und ihm erzählten was wir gelernt hatten (damals gab es ja keine Einrichtungen für „besondere“ Kinder.). Walter war auch oft bei uns daheim (ist dann immer bei seiner Mutter ausgebüxt, weil die immer soooo viel schimpfte).
    Wenn ich heute zurückdenke …. ich habe von Ihm sehr viel gelernt.
    Das Staunen über Kleinigkeiten …. das FREUEN und unvoreingenommene Zugehen auf Menschen. Vor allem aber, dass JEDER – wirklich JEDER Mensch Liebenswert ist.
    Mir war Walter sehr oft lieber als so manche meiner Schulkollegen/-innen.
    Walter war immer ehrlich!
    Er hat mich NIE — NIEMALS angelogen (er wußte gar nicht was das ist!).

    Ann-Kathrin gehe weiter den – DEINEN eingeschlagenen Weg.
    Auch wenn es manchmal Tritte gibt – die Liebe und die strahlenden Augen überwiegen doch!

    LG Ellen
    (die gerade wehmütig an Walter denkt, der leider nicht mehr unter uns ist)

  7. Johannes Werges sagt

    Hey: Du bist auf dem richtigen Weg . Da klingt Berufung durch . Du hast so gut und so schön geschrieben. Dies sollten viele lesen. Insbesondere die welche keinen Job suchen , sondern einen Beruf . Schreib öfter so tiefergehende Sachen. 😊😊😊

  8. Knodel Inge sagt

    Hallo Ann-Kathrin!
    Du hast nicht nur einen schönen Namen sondern ganz viel Herz. Es hat mir viel Freude bereitet Deinen Artikel zu lesen. Ich wünsche mir viele junge Leute die so denken wie Du. Einige kenne ich bereits aber es sind einfach zu wenige. 2014 war ich beim Klöppelkongress in Hattingen und habe wie fast immer in einer Jugendherberge gewohnt. Dort kam eine größere Gruppe Menschen mit teils schweren Behinderungen an. Die Betreuer waren junge Männer und Frauen. Einige waren von ihrem Äußeren sehr extrem aber mit viel Herz und haben ihre Freizeit bzw. Urlaub genutzt um zu helfen. Ohne sie hätte diese Gruppe keinen 10 tägigen Urlaub machen können. Eine Betreuung mit soviel Liebe und Herz wünsche ich jedem Behinderten. Leider mussten Sie bei der Besichtigung von Schalke 04 alles selber zahlen. Man gibt viel Geld für Spieler aus und kann dann noch nicht einmal für eine Gruppe eine Kleinigkeit springen lassen. Es ist beschämend für solch einen Verein. Aber so ist es nun mal. In Öhringen ist 2016 die Landesgartenschau. Mit einigen Klöppler würde ich gerne mit Menschen mit Behinderung klöppeln. Habe auch genaue Vorstellungen von dem war wir machen möchten, leider ist man von meinem Vorhaben nicht begeistert und wird es warscheinlich auch nicht zu lassen. Sehr schade, denn Menschen mit Behinderung werden zu oft nicht künstlerich gefördert. Sie können sehr viel und haben viel Fantasy man muss es nur erwecken. Mach weiter so und freue Dich über ein Lachen und kleine und große Fortschritte. Liebe Grüße Inge

  9. Liebe Ann-Kathrin,
    ein toller Artikel einer baldigen Kollegin 🙂 Ich habe gerade gestern den Abschluss meines Heilpädagogik-Studiums gefeiert. Auch bin immer mit den sonderbaren Verbindungen zum Wort „Heilpädagogik“ konfrontiert- nicht zu vergessen die medizinische Bedeutung, die aufgrund des Wortes „heil“ vermutet wird…
    Ich finde ja, dass es der schönste Beruf der Welt ist und es fast nichts schöneres zu feiern gibt als wenn es gelingt Menschen dabei zu begleiten, Barrieren (eigene und fremde) zu überwinden, Barrieren auch aus dem Weg zu schaffen, mit ihnen auch Barrieren auszuhalten bzw. die Mitmenschen dabei zu begleiten ihre Barrieren zu überwinden und in Kontakt zu kommen.
    Schön ist deine Leidenschaft, die in deinem Text zu spüren ist.
    Liebe Grüße
    Anika

  10. Ich sag nur Daumen hoch zu dir, deiner Berufswahl und deinem Leben!!! Man muss sein leben nicht immer betriebswirtschaftlich vorausplanen, nicht immer zählt der persönliche Break Even und manches Mal muss man einfach seiner Passion folgen und die zum Beruf machen. Wo wären wir hier, wenn es nicht Menschen gäbe, die einen Herzensberuf erlernen und diesen ausüben? Und wer braucht schon soooooooooo viele Ärzte, Richter, Anwälte und sonst was 😉 Alles Gute für deine Zukunft!

    LG Katrin

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