Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #6 Unsere Familie ist auch „anders“

​Ich stelle Euch heute meinen Onkel Holger vor(auf dem Foto seht Ihr ihn mit meiner Tochter Marie). Es ist mein ältester Onkel und bald darf er auch in die wohlverdiente Rente gehen. Meine Großeltern waren mit gerade 20 Jahren noch sehr jung,als Holger geboren wurde. In den 50er Jahren war es glaube ich noch schwieriger, ein Kind mit ExtraChromosom zu bekommen,als heute. Damals herrschte so kurz nach dem Krieg immer noch die Meinung:“Geben Sie das Kind doch ins Heim!Sowas muss man doch nicht zu Hause machen!“ Für meine Großeltern war das eine schwere Zeit. Es gab noch keine Förderung,Inklusion war ein Fremdwort.Oft passierte es,dass sich Besucher im Restaurant wegsetzten oder meine Großeltern gebeten wurden,das Restaurant zu verlassen. Kein Arzt war spezialisiert auf Kinder mit dieser Einschrängung und den Besonderheiten. Aber mit viel Liebe und Geduld meisterte die Familie das Schicksal und konnte es auch annehmen. Onkel Holger bekam noch drei Geschwister und mittlerweile sind meine Großeltern 80 Jahre alt und sorgen sich nach wie vor völlig eigenständig um ihn. Das heißt zb morgens 5 Uhr aufstehen,damit Holger den Bus zur geschützten Werkstatt pünktlich erreicht, das heißt diverse Arztbesuche zur Kontrolle,denn mit dem Alter schleichen sich auch die typischen Krankheiten ein,das heißt Besuche vom Vormundschaftsgericht,ob sich beide richtig um ihn kümmern und ihn richtig versorgen. In unserer Familie war es immer völlig normal,dass Onkel Holger so ist,wie er eben ist. Wir sind gemeinsam in den Urlaub gefahren und auch hin und her zu Besuch gewesen. Als ich einmal die Sommerferien bei meinen Großeltern verbrachte, ging ich mit Onkel Holger spazieren und wir zeigten uns gegenseitig unsere Entdeckungen-er bleibt ja immer jung,obwohl er alt wird-da zischte uns ein wildfremder Mann an:“Unter Hitler hätte es sowas nicht gegeben!“ Das war in den 80er Jahren und erschreckte mich wirklich sehr. Auch heute hört und liest man ja wieder was ein Menschenleben mit Behinderung überhaupt wert ist und ob Normalsein-was man so nennt weiß ich auch nicht-nicht das Höchste der Glückseeligkeit ist. Ich sage, dass es das nicht ist. Eine Gesellschaft wird durch Verschiedenartigkeit und bunte Nuancen bereichert und gestärkt. Man kann viel  von einander lernen und sich gegenseitig das Leben schön machen. Als ich 1997 zum ersten Mal schwanger wurde,drängte mich meine Ärztin zur Messung der Nackenfalte unseres Sohnes.Ich konnte mich nicht entscheiden,fühlte mich aber irgendwie überrumpelt und sagte dann ja zu dem Test.Beim 2. Kind ließ ich den Test trotz Protest nicht mehr machen. Beim 3.Kind,meinem Sohn,mußte ich zu den Untersuchungen immer in die Uniklinik in Mainz oder nach Wiesbaden fahren-dort fühlte ich mich zum ersten Mal richtig ernst genommen. Der Arzt besprach mit mir vor dem großen Screening genau was er alles untersuchen wolle und welche Möglichkeiten es gäbe,wenn ein Untersuchungsergebnis auf Trisomie21 hinweisen würde. Er war wirklich sehr lieb und drängte in keine Richtung. Ich konnte jedoch deutlich merken,dass mein:“Wir möchten den Jungen bekommen,egal was die Untersuchung ergibt!“ ihn erleichterte. Bei meiner Tochter hatte ich auch das große Screening wegen den Organen usw. Es wurde nichts festgestellt,trotzdem wurde unsere Tochter mit einem Herzfehler geboren.

Was ich jedenfalls sagen möchte, ich würde es für die betroffenen Familien schöner finden, wenn eine Vernetzung zu Eltern möglich wäre,damit man aufgefangen wird. Ich würde es wichtig finden,dass die Ärzte sich aus der Entscheidungsfindung heraushalten,also nicht beeinflussen,sondern einfach nur Ansprechpartner sind.Vielleicht dürfte man diese wichtige Aufgabe auch wieder mehr in die Hände der Hebammen legen,das Wissen ist doch da-es müßte nur gebündelt werden und den Eltern in vielfältiger Form zur Verfügung stehen. Aber eines darf nicht passieren,dass der sogenannte Fortschritt in der Medizin,werdende Eltern dazu drängt, eine Schwangerschaft zu beenden,nur weil es der Gesellschaft unangenehm sein könnte. Ich bin froh,dass meine Großeltern mutig waren und ihre Entscheidungen nur ihrem Gewissen zur Prüfung gaben.Mir gefiel schon als Kind folgendes Gedicht dazu sehr gut:

Weit von der Erde entfernt fand eine Versammlung statt:
„Es ist wieder Zeit für eine Geburt“, sagten die Engel zu dem Gott dort oben.
Und dieses besondere Kind wird viel Liebe benötigen. Seine Fortschritte werden sehr langsam sein, Vollendungen werden nicht offensichtlich. Und es wird viel Fürsorge benötigen von den Menschen, die es dort unten treffen wird.
Es kann nicht laufen, lachen oder spielen wie andere.
Von vielen Mitmenschen wird es nicht aufgenommen, es wird als behindertes Kind immer benachteiligt sein. Also lasst uns vorsichtig sein, wohin wir es senden. Wir wollen, dass sein Leben glücklich und zufrieden wird.
Bitte, Gott, finde die Eltern, die diese schwere Aufgabe für dich erledigen können.
Sie werden nicht sofort merken, welche wichtige Rolle sie gebeten wurden zu spielen für dieses Kind von oben, das starke Treue und große Liebe in sich hat.
Doch bald werden die Eltern das ihnen gegebene Privileg erkennen, dass sie ein Geschenk des Himmels versorgen. Dieser kostbare Schützling, so sanftmütig und mild, ist des Himmels besonderes Geschenk.“ 
viele liebe Grüße Ines
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Vielen Dank an Ines für diesen berührenden Text. Ich finde es unglaublich beachtenswert, dass sich seine Eltern im hohen Alter noch so um ihn kümmern. Und es ist sehr interessant auch mal einen Blickwinkel für die älteren Generationen von Menschen mit Down-Syndrom zu bekommen. Schade, dass vor 50 Jahren die Bedingungen noch so schlecht waren. 
Ich wünsche Holger und seiner Familie alles erdenklich Gute! 

8 Kommentare

  1. Liebe Katharina, ich freue mich sehr über das positive Feedback für meine Familiengeschichte 🙂 Ich hoffe, ganz viele werdende SonnenscheinKinder-Muttis und -Vatis lesen alle Berichte,Geschichten,Erzählungen. Vielleicht sollte aus allen Erlebnissen die man hier so liest,am Jahresende ein Buch drucken lassen 🙂 <3 ich wollte übrigens noch auf ein tolles Projekt hinweisen,bestimmt kennen es schon viele 🙂 http://ohrenkuss.de/ bis bald Ines

  2. Vielen Dank für Deinen Bericht. Leider gibt es nach wie vor noch viel zu viele Vorurteile. Ich weiß es von einer ehemaligen Nachbarin, ihre Tochter hat das Down Syndrom. Sie bekam immer nur gesagt, was nie möglich sein wird, aber ihre Energie und die Zeit und Liebe, die sie ihrer Tochter gegeben hat, hat vielen das Gegenteil bewiesen. Die Kleine hat viel geschafft, was die Ärzte nicht für möglich gehalten haben.
    Ich persönlich finde, das Kinder mit Down Syndrom Sonnenkinder sind, natürlich brauchen sie mehr Zeit und Liebe, aber sie geben es auch doppelt zurück.
    Liebe Grüße und danke für Deinen tollen Blog
    Karina

  3. Es ist eine große Freude, diese Berichte hier zu lesen, vielen vielen Dank!!

  4. Liebe Ines!
    Meine Tante ist ebenfalls mit einem Chromosom mehr auf die Welt gekommen und meine Oma schwankte immer zwischen ihrer nicht endenden Liebe zu ihrer Tochter und den Dingen, die die Gesellschaft von ihr erwartete. Der Druck hat sie damals sehr einsam und depressiv werden lassen.
    Trotzdem bin ich mit dem Gefühl aufgewachsen, dass "Behinderung" (ich mag das Wort so gar nicht), egal welche Form, zum Leben dazu gehört. Heike war aber mit Sicherheit einer der Gründe, warum ich Physiotherapeutin für Kids geworden bin und warum mir die besonderen Kinder und ihre Familien so am Herzen liegen. Heike war immer nur zu Hause bei meiner Oma. Hat nie eine Schule oder eine Einrichtung besucht und erst mit 50 Jahren in einem Heim gelernt, sich selbst anzuziehen und alleine auf das Klo zu gehen. Diese extreme Abhängigkeit hat mich als Kind immer stark berührt. Und mein oberstes Ziel in der Therapie ist es immer, die Kinder so unabhängig wie möglich zu machen ( sorry liebe Mamas und Papas, ich weiß dass es manchmal vorher einfacher war…).
    Seit einem Jahr hat meine Jüngste nun Diabetes (auch eine "Behinderung" – besonders des Alltags) und wieder ist mein größtes Ziel, ihr soviel Selbständigkeit wie möglich zurück zu geben. Puh! Ich arbeite daran.
    Liebe Katharina!
    Mir gefällt dein Blog sehr gut und ganz besonders diese Rubrik, denn vieles hat mich schon sehr berührt. Meistens lese ich still vor mich hin – vielleicht murmel ich mir einen Kommentar zurecht :-), aber heute fühlte ich mich ganz doll angesprochen.
    Danke macht weiter so!
    Liebe Grüße vom Deich
    Claudia

  5. Holger macht auf dem Foto einen sehr fröhlichen Eindruck. Insofern denke ich, er hat alles an Liebe bekommen von Eltern, Verwandten, Mitmenschen, was er sich hätte wünschen können. Und das ist das wichtigste, war es vor 50 Jahren und ist es heute. Schön finde ich, wie gut es inzwischen sein kann, mit einem besonderen Kind zu leben. Alles Gute für Holger und danke Ines für den schönen und berührenden Bericht.

    LG Katrin

  6. Liebe Katharina, Liebe Ines,
    Diese Reihe berührt mich sehr, obwohl ich persönlich direkt nicht betroffen bin. Beruflich schon… Ich kann mir vorstellen, dass es für deine Großeltern zu der Zeit wirklich noch viel schwerer war als heute. Das ist schon krass, wenn man gebeten wird, das Restaurant zu verlassen… ber daran kann man auch erkennen, dass unsere Gesellschaft offensichtlich Fortschritte gemacht hat, was das angeht. Ich hoffe mal, dass niemand mehr gebeten wird, das Restaurant zu verlassen, weil sein Kind anders ist (ok, wenn es den Laden auseinander nimmt oder etwas in der Art, könnte ich es verstehen, aber das kommt bei Kindern jedes Chromosomensatzes vor… ist dann eher eine Frage der Erziehunng). Ich glaube aber, dass es auch eine Frage ist, die Eltern beschäftigt, was passiert mit meinem Kind, wenn ich alt bin und mich nicht mehr um es kümmern kann. Das wäre zumindest etwas, dass mir Angst machen würde. Ist schließlich so, dass Menschen vor allem vor dem Unbekannten Angst haben. Und es ist toll, von so mutigen Beispielen zu lesen, in denen sich z.B. deine Großeltern gegen den Zeitgeist gestellt haben und ihr Kind nicht ins Heim gegeben haben, trotz aller Widrigkeiten! Alles Gute auch für die Zukunft.
    Viele liebe Grüße
    Julia

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