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Mein Leben mit dem Besonderen #96 Normal und irgendwie doch nicht normal

Nach außen hin sieht man uns als Familie. Familie mit 3 Kindern, 2 Hunden, Haus und so.

Schaut man genauer hin, sieht man 2 Mädchen, 11 Jahre alt und 9 Jahre alt und einen lebhaften Jungen 5 Jahre alt. Eine Frau, Mutter, 35 Jahre alt und einen Mann, Vater, 45  Jahre alt. Und wieder sieht man nichts besonderes. Eigentlich.

Aber unsere Älteste ist besonders. Mal mehr, mal weniger. Sie ist anders als andere.

Sie leidet seitdem sie 6 ist unter Verlustängsten. Es kam für uns von jetzt auf gleich. Emmely kam überraschend in unser Leben, aber nicht weniger geliebt. Im Gegenteil. Aber wie die Schwangerschaft eine Überraschung und eine Herausforderung war, waren es auch ihre ersten Monate. Sie war ein Schreikind. 6-8 Std. am Tag. Nachdem wir als „Ersteltern“ alles durch hatten von Schreiambulanz, Ostheopath bis hin zu diversen Ärzten, war klar: Sie ist ein klassisches Schreikind. Zeitweise dachte ich sie wächst an mir fest. Ich konnte sie nicht ablegen. Nach 6 Monaten wurde sie ruhiger, ausgeglichener und entwickelte sich wie alle anderen Babys. War aber immer sehr anhänglich, sehr sensibel und überaus vorsichtig mit anderen Menschen. Wir flogen durch die Kindergartenzeit, sie bekam eine Schwester, die man als Anfängerbaby bezeichnen würde und kam in die Grundschule.

Und peng, da war sie die Verlustangst. Es fing damit an, dass sie nicht alleine den Schultag starten konnte. Entweder mein Mann oder ich begleiteten sie jeden Morgen auf den Schulhof und übergaben sie ihrer Klassenlehrerin und das nicht immer ohne Tränen. Zu Hause verfolgte sie einen regelrecht. Das, was für jeden von uns alltäglich ist, wurde für mich fast zum Spießrutenlauf. Ich ging zur Toilette, es dauert e keine 30 sec. und es wurde ängstlich gerufen: Mama? Mama?

Wo viele andere Kinder anfingen auch mal kurze Zeit alleine zu Hause zu bleiben, klebte Emmely an einem. Das Ganze steigerte sich langsam aber stetig. Der Höhepunkt zu der Zeit war, dass ich eigentlich nicht am Abend weggehen konnte. Auch nicht, wenn der Papa da war. Sie wurde panisch, zitterte am ganzen Körper, weinte.

Für uns als Eltern war ein Punkt erreicht, an dem wir nicht weiter wussten. Kurze Zeit später fanden wir uns in einer Kinderpsychologischen Praxis wieder. 3 Gespräche mit uns als Eltern und mit Emmely später, wurde uns angeraten sie testen zu lassen auf Hochsensibilität. Wir lehnten ab. Was sollte uns ein Ergebnis bringen? Noch mehr Verunsicherung? Eine „Spontanheilung“?

Wir bekamen Alltagstips an die Hand. Emmely wurde altersgerecht erklärt warum sie so empfindet und zack saßen wir wieder auf unserer Couch.

Ihr Zustand wurde mit der Zeit besser, sie wurde mutiger, aber alleine zu Hause bleiben, war absolut unmöglich. Was soll es, das ist nicht wichtig und damit können wir sehr gut leben.

Zwischenzeitlich wurde ihr Bruder geboren. Als Familie waren wir komplett und lebten nun im Alltagsstress zwischen 3 Kindern, Job und dem ganz normalen Alltagswahnsinn.

Der nächste große Schritt war der Schulwechsel aufs Gymnasium. Es war ihr Wunsch, die Noten passten, also Bühne frei für Emmely. Die 5. Klasse flitze an uns vorbei. Die Umstellung von Grundschule zur weiterführenden Schule brachten keine Probleme und an vergangene Probleme hat niemand von uns auch nur im geringsten gedacht. Sie fand eine neue Leidenschaft neben dem Reiten, das Singen. Erst nur die PflichtAG Schulchor, dann der Wechsel in den großen Chor der Schule. Es war manchmal schon ein wenig Wehmut dabei sie so zu sehen, selbstständig auf dem Weg zum Teenanger. Das kleine Mädchen war auf dem Rückzug.

Und dann kam es wie aus dem Nichts. Oder doch schleichend. Das Handy klingelt „Könnten sie bitte ihre Tochter abholen, ihr ist schlecht“. Jede Mutter weiß was dann abläuft. Zack die Sachen in die Tasche geworfen auf der Arbeit und ab ins Auto das Tochterkind in der Schule abholen. Zu Hause ging es ihr schnell besser. Man denkt immer noch alles ist super alles ist normal. Zwei Tage später wieder ein Handyklingeln: „Ihrer Tochter ist übel, sie hat Kopfweh. Ist es möglich, dass sie ihre Tochter abholen?“. Ein erstes inneres Aufhorchen, was ist los mit ihr. Hmmm Hormone, Pubertät? Kein Gedanke an frühere Situationen. Zu Hause wurde sie zunehmend unruhiger, blieb wieder lieber bei uns. Ein vorsichtiges Fragen unsererseits wurde abgeblockt. Man fängt an sein Kind argwöhnisch zu betrachten. Der Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten. Es war wie ein Vorhangfall beim Theater. Wieder ein Anruf der Schule. Ein Freitag, der 3. Anruf in der Woche. Diesmal war ich zu Hause.

Keine 15 Minuten später sitzt ein für mich fremdes Kind neben mir im Auto. In Tränen aufgelöst, am zittern, bleich und mit Angst erfüllt. Der Satz aus ihrem Mund wird mich noch lange verfolgen: Mama ich brauche Hilfe, ich habe so unglaubliche Angst. Hilf mir bitte!

Da war sie wieder die Verlustangst. Mama wo gehst du hin? Papa wann bist du wieder da? Schule? Nein geht nicht, ich hab Angst, dass was anders ist. Was ist, wenn du nicht pünktlich bist zum Abholen? Sie stellt alles in Frage und findet X Möglichkeiten was alles passieren kann.

Nun sitzen wir hier als Familie, alle in einem Boot. Ein Kind, das völlig überfordert ist mit sich selbst. Eltern, die einfach nur intuitiv handeln und sich fragen warum man so lange warten muss auf einen Termin beim Kinderpsychologen. 8 Wochen. Und Geschwister, die auch Bedürfnisse haben. Ein Alltag, der sich komplett ausrichtet auf die Ängste eines Kindes.

Es gibt nun Dinge, die sind verhandelbar und Dinge, die nicht verhandelbar sind für sie. Schule und Hobbys sind nicht verhandelbar. Weitere Freizeitgestaltung ist verhandelbar, stellen uns alle aber vor eine Herausforderung. Ich bin dankbar für eine tolle Unterstützung seitens der Schule, die Emmely einen Schulalltag ermöglichen mit ihrer Angst im Nacken. Wir sind froh um unser soziales Umfeld, die einfach zuhören. Und so hangeln wir uns von Tag zu Tag. Es wird besser, aber es bleibt schwierig.

Da sind sie wieder die Gedanken: warum? Was könnte der Auslöser gewesen sein? Waren die letzen 2 Jahre einfach zu viel für sie? Die Krankheit von Oma und Opa, der doch überraschende Tod des anderen Opas. Verschwindet es wieder? Kann man ihr helfen? Hilft man uns?

Aber auch das warme Gefühl das wir einen großen Zusammenhalt haben als Familie, wir ihr sicheres Nest sind. Wir ihr die Sicherheit geben, den Halt den sie gerade braucht. Das ist es das Besondere, das man nicht sieht.

6 Kommentare

  1. Marie sagt

    Hallo ich möchte einmal aus dem Blickwinkel einer erwachsenen Frau (33 😉 ) erzählen der es als Kind genauso gegangen ist wie Emmely.
    Wie du deine Tochter beschrieben hast, könnte ich als Kind beschrieben worden sein. Aus Angst vor Verlusten und überhaupt wegen einer Angst- und Panikstörung habe ich in der Grundschule mehrere Wochen die Schule verweigert. Erst durch eine gestaffelte Eingliederung habe ich damals wieder in die Schule gehen können. Bis ich 14 war konnte ich nicht mit in das Schullandheim fahren bzw. musste von dort wieder abgeholt werden. Referate, Vorträge, sich melden in der Schule: undenkbar. Ich habe nie irgendwo anders geschlafen und zeitweise nur noch bei meinen Eltern. Ich war ein zutiefst verunsichertes und wenig selbstbewusstes Kind, was ich nicht selten gegen mich richtete… Dann begann ich mit 14 eine Verhaltenstherapie, welche sich über drei Jahre hingezogen hat. Diese Therapie hat mir extrem geholfen. Ich wurde sehr viel selbstbewusster und konnte mit meinen Ängsten nach und nach umgehen! Erst wurde ich Klassensprecher, dann Schulsprecher, dann Semestersprecher, jetzt bin ich Unternehmensberaterin und gebe diverse Schulungen vor mir wildfremden Menschen. Ich musste sehr viel an mir arbeiten und auch an meinem Umfeld. Die Therapie war extrem belastend und schwer, aber jetzt bin ich ein freier Mensch. Ich lasse mich nie wieder von meinen Ängsten, die einfach zu mir gehören, einschränken. Ich habe gelernt damit umzugehen!
    Jetzt habe ich einen Sohn (7) und eine Tochter (4). Mein Sohn kommt ganz nach mir. Ein hochsensibles Kind mit vielen, vielen Ängsten. Ich kann ihn so sehr verstehen und wir meistern das zusammen. Er muss mit seinen Ängsten umgehen lernen!
    Ich hoffe ich konnte Dir mit meiner Geschichte helfen. Du hast da ein besonderes Kind, welches ganz bestimmt sehr tiefgründige und interessante Gedanken in sich trägt.

  2. Ach je, wie kommt mir das bekannt vor. Ich wünsche euch und eurer Tochter viel Geduld.

    Mir war es immer leichter (nicht LEICHT aber leicht-er), je weniger ich mich von der Person, auf die ich warten musste bzw. die nicht in der Nähe war abhängig fühlte. Für mich am besten zu vermeiden mit schon mal nicht warten müssen: Meine Schule war z. B. zum Gück für mich zu Fuß zu erreichen – wenn nicht vorgesehen war, dass jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo auftauchte ließ sich damit direkt die Panik vermeiden, falls es fünf Minuten länger dauerte.

    Frage: Hat eure Tochter ein Handy? Ich bin jetzt allgemein nicht so begeistert von dem Gedanken, Kindern Handys zu geben, aber falls z. B. eine What’s App Nachricht zum Bestätigen, es ist alles OK, jeder ist genau, wo er sein soll, helfen könnte, die Angst in Schach zu halten….

  3. Anne sagt

    Hallo liebe Schreiberin,

    ich antworte sonst nie, aber Dir möchte ich gerne ein paar Worte schreiben.
    Das was du schreibst könntest du über meine große Tochter geschrieben haben. Wir hatten genau die gleichen Themen und auch einen ähnlichen Ablauf. Sie war unsere Erste, ein Schreikind, die Kindergarteneingewöhnung dauerte Jahre und in der Schule musste sie anfangs ein Erzieher schreiend und um sich tretend festhalten damit sie mir nicht verzweifelt hinterherläuft. Es war zwischenzeitlich alles gut und mit 11 Jahren tauchte das Problem urplötzlich wieder auf. Ich glaube inzwischen, dass die Hormonumstellung im Körper durch die beginnende Pubertät die Verlustangst wieder hat vortreten lassen.
    Sie schlief mit 12 Jahren fast jede Nacht bei uns im Bett weil sie solche Angst hatte das uns etwas passieren könnte. Ich war zwischenzeitlich sehr verzweifelt und mein Mann und ich haben uns gefragt ob sie irgendwann später ihren Freund bei sich im Zimmer schlafen lässt und zu uns ins Bett gekrochen kommt.*lach*
    Aber nun wird sie bald 15 Jahre alt und es ist nach ihrem 13 Geburtstag Schritt für Schritt besser geworden.
    Inzwischen schläft sie liebend gern mit Freundinnen alleine in den Häusern der Eltern die fürs Wochenende verreist sind und ist am liebsten unterwegs.
    Das hätte ich mir vor 2 Jahren nicht träumen lassen und jetzt ist es schon fast zu viel 🙂
    Haltet durch, gebt ihr die Sicherheit die sie braucht, sie wird ganz sicher ihren Weg finden!

    Liebe Grüße
    Anne

  4. Danke für Eure Geschichte… vielleicht seid Ihr in den letzten Jahren ja schon einmal darauf gestoßen… hast Du schon einmal etwas von „Vanishing twins“ bzw. dem „verlorenen Zwilling“ gehört? Da meine dritte Tochter vermutlich so ein Zwilling ist, habe ich mich ein bisschen damit beschäftigt und musste sofort daran denken, als ich Eure Geschichte las.
    Was für ein Glück Eure Große mit Euch hat…
    Seid von Herzen gegrüßt!
    Nina

  5. Knodel Inge sagt

    Ich bin fest davon überzeugt, dass ihr nicht die einzigen Eltern mit eime Kind das unter Verlustangst leidet seit. Für alle ist es schwierig und ganz bestimmt für eure Tochter. Es gibt aus verschieden Gründen Kinder die einen Unterricht in einer normalen Schulklasse nicht durchstehen und in einer Schule die einer Kinderklinik angeschlossen ist unterrichtet werden. Sehr gut ist, dass sie sich euch anvertraut auch wenn helfen nicht immer leicht ist oder auch mal garnicht geht. Ihr gebt ihr mit eurer Lieben ein warmes Nest und Vertrauen. Das ist etwas besonderen, denn viele Eltern oder Familien können oder wollen das nicht. Macht weiter so, ihr schafft das schon. Vielen Dank für euren Bericht. Sicher wird er Eltern helfen die in der gleichen oder ähnlichen Situation sind .

  6. Steffi sagt

    manche Dinge, von denen du schreibst- Scheibaby, anhaenglich -kommen mir sehr bekannt vor, andere nicht. Ich moechte dir trotzdem von der Moeglichkeit des Neurofeedbacks berichten, das (in Kombination mit anderen unterstuetzenden Massnahmen) sehr hilfreich bei Angststoerungen sein kann. Vielleicht kann das auch eurer Emmely helfen.
    Viele Gruesse, Steffi

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