Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #81 Mein Leben mit dem Nicht-Besonderen

Ich bin Sonderpädagogin und möchte euch gerne erzählen, wie es dazu kam.

Ich bin als älteste Tochter einer Mutter aufgewachsen, die immer Tageskinder hatte und immer auch behinderte Kinder betreut hat (Einmal war es auch die Mutter eines Kindes, die Epilepsie hatte), auch schon vor meiner Geburt. Ich bin also wirklich selbstverständlich mit behinderten anderen Kindern aufgewachsen. Meine erste Sandkastenfreundin war blind, zumindest behauptet meine Mutter das 😉 Im Kindergarten hatte ich auch Freunde – jetzt, als Erwachsene, fällt mir beim Betrachten von Fotos auf, dass zwei Kinder mit einer Körperbehinderung dabei waren. Ich erinnere mich an das eine Mädchen – nicht aber daran, dass sie eine starke Tetraspastik hatte. Auf Fotos fällt mir das heute sofort auf und im Nachhinein ergeben auch die Gespräche einen Sinn, die man als Kind so mitbekommen hat: Der Kampf, dass das Mädchen an einem regulären Töpferkurs teilnehmen durfte, dass das erwähnenswert war – ich hab es als Kind nicht verstanden und unter „Seltsamkeiten der Erwachsenen“ abgetan…

Ich könnte viele viele Geschichten erzählen, von meinen alltäglichen Begegnungen mit „dem Besonderen“ als Kind und als Jugendliche. Und von Dingen, die die damaligen Betreuer oder Eltern besser nicht wissen sollten, weil sie nicht ungefährlich waren, wie die Offroad-Testung von Rollstühlen… Und auch Dinge, auf die ich nicht stolz bin (Wie ich rausfinden wollte, ob ein Freund WIRKLICH lesen kann, und ihn mit blöden peinlichen Fragen zu Aufschriften an Bussen über JA/NEIN Antworten ausgefragt habe. Er muss sich sehr gedemütigt gefühlt haben.)

Sehr prägend war, denke ich, die Zeit, die ich in Volmarstein gewohnt habe. Dort gibt es die „ev. Stiftung Volmarstein“, das heißt orthopädische Klinik, Wohnheime, Sonderschulen… alles recht eng beieinander im Ort. Durch die Gemeinde dort hatte ich viele Kontakte zu Kindern und Jugendlichen aus dem dortigen Kinderheim. Zunächst haben wir andere Kinder zum Kindergottesdienst aus dem Heim abgeholt, dann entwickelten sich Freundschaften. Ich habe viel Zeit dort im Heim verbracht, in einigen der Wohngruppen gehörte ich sozusagen zum Inventar 😉 Ich habe Rollstuhlfahren gelernt, habe gelernt, Fragen so zu formulieren, dass sie mit JA/NEIN zu beantworten sind, ich bin oft zum Abendessen geblieben (heute frage ich mich: ein zusätzlicher Esser mehr beim knappen Budget?). Ich habe oft bei allem im Alltag geholfen – nur wenn’s um die Hygiene ging, wurde ich rausgeschickt. Einmal habe ich einen nichtsprechenden Freund mitgenommen und im Rollstuhl 30 Minuten den Berg hochgeschoben, weil es bei uns Spargelsuppe gab und er mir signalisiert hatte, dass er das noch NIE gegessen habe.. und das geht ja nicht! Meinen ersten Kuss habe ich dort gegeben und wurde das erste Mal tief verletzt, als dieser Junge mich nie wieder sehen wollte. Er kommunizierte über eine Buchstabentafel, was lange dauerte, so dass ich ihm oft Antwortmöglichkeiten vorgab. Als er einmal in eine Depression fiel und mich nicht sehen wollte, gab ich ihm zur Wahl „Komm morgen wieder“, „Komm nächste Woche wieder“, „Verpiss Dich. Ich will dich nie wieder sehen“. Er wählte letzteres. Und auch mehrmalige Nachfragen durch Betreuungspersonal einige Wochen später ergaben genau diese Antwort – kurz darauf verstarb er an einer Lungenentzündung – wir haben uns nicht mehr gesehen…

Im Nachhinein finde ich es sehr erstaunlich, wie selbstverständlich man mich als 13-Jährige mit gleichaltrigen oder jüngeren schwerbehinderten Kinder in den Ort losziehen ließ. Und wir haben echt Quatsch gemacht. Die Straßen waren steil und wir waren auch ohne Wege im Wald… mit einem Rollstuhl, der so groß war wie ich.

Aber es war gut! Wir haben ganz normale Freundschaften gehabt. Mit Heimlichkeiten, mit Freude und vor allem mit Streit. Und dafür bin ich sehr dankbar! Ich durfte IMMER auch behinderte Kinder doof finden, ich durfte sauer sein, ich durfte sie unsympathisch finden oder eklig, durfte Angst haben, ich durfte Erwartungen haben und schimpfen, wenn die nicht erfüllt wurden. Also so richtig „Unbesonders“, so, wie es halt ist, wenn Menschen aufeinanderstoßen.

Später habe ich dann die „integrative Jungschar“ der Gemeinde erst besucht und dann geleitet. Leider waren das „Integrative“ die nichtbehinderten Geschwisterkinder der Gruppenleiter, eine Kooperation mit der örtlichen CVJM-Gruppe ist gescheitert.

Meine Schulpraktika habe ich im Oskar-Funke-Haus, dem Kinderheim, absolviert und damit war dann auch klar, dass ich ein FSJ in dem Bereich machen will. So landete ich in Hamburg, per Zufall in einem Heim, das zu Ausbildungs- und Weiterbildungszwecken einen Personalaustausch mit dem Heim aus Volmarstein betrieb. Aus diesen Erfahrungen war klar, dass ich zwar im Zukunft mit behinderten Kindern und Jugendlichen arbeiten will, aber eine reine Pflegearbeit auf Dauer wegen meines Rückens nicht schaffen würde. Neben der Bewerbung für „Lehramt für Sonderpädagogik (Hören/Lernen)“ habe ich mich für eine Ausbildung zur Orthopädiemechanikerin beworben. Wer aufmerksam gelesen hat, weiß, was es geworden ist 😉

Mein Studium finanziert habe ich durch GU-Ferienfreizeiten. Da bin ich in den Ferien zw. 1 und 3 Wochen mit mehreren Betreuern und behinderten Menschen zw. 6 und 40 Jahren in ein Ferienhaus gefahren und wir haben dort die gesamte Zeit miteinander verbracht. Auch dort habe ich natürlich viel erlebt und das Zusammenleben war immer sehr spannend. Kennengelernt habe ich so auch mehrere Jugendliche, die dabei waren, zu Hause auszuziehen und mit persönlicher Assistenz im eigenen Wohnraum den Schritt ins selbstbestimmte Leben zu wagen. Da wir uns gut verstanden haben, bin ich vom damaligen Träger als persönliche Assistenz eingestellt worden. So habe ich dann über 7 Jahre gearbeitet, erst als Studentenjob, dann Vollzeit bis zu meinem Referendariat.

Es war eine Herausforderung… einerseits das professionelle Verhalten als neutrale Assistentin. Gleichzeitig aber auch ein freundschaftliches Verhältnis zu haben – mal gemeinsam einen über den Durst zu trinken und Spaß zu haben, aber auch Streit zuzulassen oder mal zu sagen, dass man etwas „Kacke“ findet. Selbst wenn man es dann trotzdem macht, weil – Assistenz ist Assistenz! Von allen wurde aber immer betont, dass sie es extrem geschätzt haben, DASS ich mich so verhalten habe. Sie hätten mir geglaubt, wenn ich sagte, dass ich ich etwas gut oder doof fände – weil ich eben nicht immer aus Pflichtgefühl gesagt habe, etwas sei gut. Sie würden kein falsches Mitleid oder unangebrachtes Mitgefühl bei mir bemerken – und ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich eben so selbstverständlich damit aufgewachsen bin und es eben normal war, auch mal zu streiten.

Warum betone ich das so?

Ich glaube, das ist ein Schlüssel zur Inklusion! Ich bin Sonderpädagogin an einer Gemeinschaftsschule, mit Kindern, die geistig behindert sind, lernbehindert, Sprachauffälligkeiten oder Autismus haben, oder auch „offiziell nix“ aber hochgradig auffällig sind und genauso mit Kindern, die „wirklich nix haben“, Kinder die einen Förderschulabschluss machen, weiter aufs Gymnasium dürfen oder keinen Abschluss schaffen. Und genau diese Kinder haben alle anderen Kollegen auch. Ich merke jetzt – im aktiven Schuldienst, wie viele Kollegen damit überfordert sind. Wie sie provozierendes Verhalten hilflos tolerieren, nicht wissen, was kann, was muss man sich gefallen lassen, was ist mit „der Behinderung“ zu entschuldigen…. Wie sie sich nicht TRAUEN, mal zu sagen, dass etwas nicht GEHT. Das gleiche gilt für die Mitschüler!! Ich habe den Eindruck, die, die unbeholfen sind im Umgang mit Besonderheiten, denen wurde „eingetrichtert“, man müsse „nett“ zu „denen“ sein, weil: „die sind behindert“. Und das finde ich eben Quatsch. Ich muss so nett zu ihnen sein, wie ich eben zu jedem Menschen bin, den ich so gezwungenermaßen regelmäßig treffe. Ich muss ihn nicht mögen, WEIL er behindert ist. Vielleicht mag ich ihn, vielleicht mag ich ihn nicht. Vielleicht kann ich was mit ihm anfangen, vielleicht auch nicht. Und wenn derjenige Mist baut, darf ich das sagen. (Und wenn ich im professionellen Kontakt mit demjenigen stehe, habe ich professionell zu sein – wie gegenüber jedem anderen! )

Am Liebsten würde ich meiner kleinen Tochter, die nun 17 Monate alt ist, genau so ein Aufwachsen ermöglichen. Aber… es scheint, als nähmen Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben, nicht am „klassischen Baby-Eltern-Alltag“ teil. Die „inklusive Krabbelgruppe“ hat offenbar niemand Betroffenen angesprochen – alle Eltern mit Kindern die dort waren, wünschten sich für ihr Kind, dass es „selbstverständlich“ auch mit behinderten Kindern aufwächst. In den normalen Krabbelgruppen, Pekipkursen, Eltern-Kind-Cafes, Musikgruppe… nix. Natürlich würde ich nicht auf jemanden zugehen und sagen „hey, lass uns befreunden, ich will, dass dein behindertes Kind mit meinem befreundet ist“ (eine absurde Vorstellung!), aber um Kontakt und normales Kennenlernen zu ermöglichen, die Chance dafür zu haben… fände ich es schön. (Mir sind einige Gründe klar – man sieht noch nix, man will nicht mit Kindern konfrontiert werden, die eventuell mehr können, man ist selbst noch nicht bereit dafür und es gibt bestimmt noch viele viele mehr…). Eigentlich wollte ich auch gezielt einen „inklusiven“ Kindergarten. Aber zum einen kann man hier froh sein, wenn man überhaupt IRGENDEINEN Kitaplatz bekommt. Und die Kitas die ich angesehen habe und bei denen ich gezielt nachgefragt habe, haben mit den Schultern gezuckt oder stolz erzählt, dass sie „na klar inklusiv arbeiten“… unter den 250 Kindern wäre eines mit Down-Syndrom und ein Autist – aber das wär noch nicht klar wie lang der bleiben kann, weil das sei schon ganz schön anstrengend.

Und, nur um’s kurz erwähnt zu haben, zum Thema Inklusion: ich bin für Inklusion. Und nicht für die Abschaffung der Förderschulen. Ich hab SO viele verschiedene Menschen mit Behinderung erlebt bisher, da waren welche dabei, für die Regelschule perfekt wäre, andere bräuchten eher den Schonraum… Ich würde mir wünschen, dass beides völlig okay und akzeptiert wäre, und dass die Eltern mehr Einfluss drauf hätten, denn diese kennen ihre Kinder am Besten. Und liebe Lehrer und Schulen: traut euch einfach mal! Vor allem in Zusammenarbeit mit den Eltern kann man viel erreichen! Und liebe Politiker: sorgt für gescheite Bedingungen. Das kostet Geld. Es lohnt sich. Da bin ich mir sicher.

Schöne Grüße an alle!

Martina aus Berlin

2014-08-22-16-45-02

6 Kommentare

  1. Hallo Martina!
    Da bleibt nichts mehr hinzuzufügen!
    Dickes Danke für deine Erfahrungen und Geddnken!
    Herzliche Grüße in die Hauptstadt von einer Kollegin!
    Vanessa

  2. Ein wundervoller Bericht, genau so ist es wünschenswert, das ist Inklusion.
    Das Vorrecht mit Behinderten aufzuwachsen sollte jeder haben, ich glaube das würde auch einige Probleme der Gesellschaft lösen

  3. Ani Lorak sagt

    Hallo. Danke für den Bericht. Das schätze ich sehr und auch die offenen Worte, die ich so unterschreiben, auch wenn ich keinerlei Erfahrungen mit Behinderten habe. Ich finde, dass man sagen darf, dass man jemanden nicht mag, deswegen ausgrenzen und mobben geht nicht, aber ich muss nicht jedermanns Freund sein. Mir geht es als Mutter 2er Kinder zu weit, wenn andere Eltern, meist Mütter, der Meinung sind, jeder darf überall mitmachen – deren Gesichter würde ich gerne sehen, wenn sich andere auf Ihrer Couch wiederfänden, die diese nicht mögen oder dass diese mit im Cafe am Tisch sässen. Ja – ohne die Erfahrung gemacht zu haben, teile ich die Meinung und frage mich, ob Inklusion auf Biegen und Brechen das Richtige, zumal oft die Unterstützung fehlt. Mein Sohn hat in der 5. Klasse – jetzt ist er in der 7. Klasse – einen Mitschüler bekommen, der – mir fällt das Wort nicht ein – mit Stress nicht gut umgehen kann, der Ruhe braucht, der eine Begleitung hat, diese stets wechselt und leider wurde den Kinder nicht die Rolle der Begleitung erklärt, auch aauf meine Bitte hin, nicht. Diese Aufsichtsperson war immer da, selbst in den 5-Minuten-Pausen, die Kinder nie unbeaufsichtigt. Die Person mischte sich weit ein und dadurch war auch der Junge nicht so akzeptiert, weil die Betreuung mehr das Problem darstellte…. Gymnasium – Schade, das mit den Kindern nicht gesprochen wird.

    • Hallo, ich dich zwar verstehen, aber es gibt ja auch so was wie Datenschutz und Privatsphäre.
      Es ist für ein Schulkind demütigend genug, mit Begleiter zur Schule kommen zu müssen.
      Unsere Gesellschaft grenzt immer schneller aus, immer grausamer.
      Obwohl es kaum noch Kinder gibt, die 100 Prozent gesund und 100 Prozent zeitgerecht und gut entwickelt sind, pickt die Gesellschaft sich immer diejenigen raus, welche sich am wenigstens wehren können.

      • Also ich habe nicht das Gefühl, dass meine Tochter es als demütigend empfindet mit Begleitung in die Schule zu kommen. Ganz im Gegenteil. Und auch die anderen Kinder empfinden es nicht als negativ. Das mag aber auch daran liegen, dass unsere Begleitung sich auch um die anderen Kinder kümmert, wenn sie Fragen haben oder Hilfe brauchen.

        Lg

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