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Mein Leben mit dem Besonderen #59 Über das Leben mit einer manisch-depressiven Mutter

An den Wochenenden durfte ich morgens in Mamas und Papas Bett kriechen. Zwischen den beiden liegend drehte ich Mamas weiches Haar immer und immer wieder um meinen kleinen Zeigefinder. Aber an diesem Samstagmorgen war alles anders. Da lag nicht mehr die Mama die ich kannte. Da lag eine weinende Mama, die ihrer gerade sechs Jahre alten Tochter erklärt, dass sie sich mit dem Leben überfordert fühle. Es war der Tag, an dem meine Mutter zum Waschen in den Keller ging und dann nicht mehr hoch kam. Während ich in meinem Zimmer spielte und mein Vater auf der Couch eingenickt war, hatte meine Mutter versucht sich das Leben zu nehmen. Hätte ich meine Mutter auch nur eine halbe Stunde später vermisst, hätte ich keine mehr gehabt.

Es folgten monatelange Besuche im Krankenhaus und in der anschließenden Psychiatrie. Nachdem meine Mutter wieder halbwegs nach vorne schauen konnte, trennte sie sich plötzlich und während eines Besuches in der Psychiatrie von meinem Vater. In meinem Beisein. Ich habe die ganze Nacht geheult. Dass ich nach diesen Ereignissen nicht allein bei meiner Mutter bleiben konnte und wollte, versteht sich von selbst. Mein Vater und ich wurden also alleinerziehend. Wir arrangierten uns mit der neuen Situation, zogen aufs Dorf und nach der Schule besuchte ich als einziges Kind meiner Schule eine Hortbetreuung. Ich wollte nie dorthin, aber es ging nicht anders und das verstand ich. In der Straße wo wir wohnten gab es viele Kinder. Wir waren frei. Wir spielten stundenlang allein am Bach und jagten als Räuber und Jandarm mit den Pedal-GoKarts durchs Dorf. Zuhause war ich ein glückliches Kind. Schlimm waren die Wochenenden an denen ich meine Mutter besuchen sollte.

Alle vierzehn Tage war Mama-Wochenende… Meine Mutter hat manische Depression. Das heißt ihre psychische Verfassung wechselt in unterschiedlicher Stärke zwischen „Hoch“ und „Tief“-Phasen. In einer Hochphase strotzt sie vor einer unzügelbaren Euphorie und Aktivität, gespickt mit Unvernunft und Selbstüberschätzung. Bahnt sich ein „Tief“ an, ist sie antriebslos, zieht sich zurück, weint und grübelt viel. Ist das Tief besonders stark, ist ihr Lebenswille wieder sehr labil. Nach Sondierung der Lage verbrachte ich das Wochenende also vor ihrem Fernseher, als Highlight im Park oder als rettenden Anker besuchten wir meine Großmutter. Ausflüge verweigerte ich, nachdem unsere Rückreise aufgrund schlechten Finanz- und Zeitmanagements deutlich schief gegangen war. Aber all zu oft saß ich neben ihr und erwischte mich, wie ich auf sie einrede als wären unsere Rollen vertauscht. Auf die Gelüste der Manie, auf die Aussichtslosigkeit der Depression.

Mit dreizehn, vierzehn Jahren schaffte ich das Mama-Wochenende ab. Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich den Tag mit ihr rum bekommen sollte ohne dabei selbst durchzudrehen. Immer wiederkehrendes Reden gegen Wände und diese unerträgliche Unvernunft in einem Menschen, der dies eigentlich gegenüber seiner pubertierenden Tochter spüren, und über den ersten Liebeskummer hinweg trösten sollte.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich ihr einen Autokauf, eine Gartenumgestaltung, die Anschaffung von Hunden, riesige Feiern, … (ich könnte das noch eine halbe Seite so weiterführen), die in ihrer Verfassung und Lage garantiert nicht vorteilhaft wären, aus dem Kopf geschlagen habe. Dauernd das Gefühl zu haben, auf die eigene Mutter aufpassen zu müssen und sich für alles verantwortlich fühlen, was sie anstellt und ich ihr nicht ausreden konnte.

Den Kontakt zu meiner Mutter habe ich heute auf das nötigste reduziert. Nicht zuletzt, weil sie mir alle super Blitz-Ideen der Hoch-Phase in Echtzeit mitteilen muss, was in einen regelrechten Telefonterror mit bis zu zwanzig Anrufen am Tag ausartet. Soweit, dass ich mich Zuhause gar nicht mehr ans Telefon traue oder „nicht da“ bin.

Es reicht. Zieh mich nicht runter! Lass mich los! Lass mich glücklich sein. Ich bin auch ich. Das hier, ist auch mein Leben und in dem ist für Manie und Depression kein Platz. Irgendwann wirst du es hoffentlich verstehen.

edit:

Meine Mutter mit manischer Depression ist definitiv kein Typus einer Betroffenen mit manischer Depression. Die Krankheit zeigt und wirkt sich so unterschiedlich aus, wie es Betroffene gibt. Jede Betroffene ist anders und kann anders damit umgehen bzw. lässt sich helfen oder nicht – Was natürlich auch ein Ent- oder Belastung für die Angehörigen darstellt. Ein Betroffener oder eine Betroffene ist kein schlechter Mensch, ganz im Gegenteil. Sie sind besorgt, feinfühlig, oft äußerst sensibel oder eben enorm Willensstark. Eigentlich positive Eigenschaften. Mit einer psychischen Erkrankung aber auch ein Risiko. DAS hier ist unsere/meine Geschichte, ein persönlicher emotionaler Rückblick und der Versuch zu sensibilisieren. Man schaut den Menschen eben nur vor den Kopf und vieles ist so schwer zu verstehen und zu akzeptieren weil es von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Das Mutter-Kind-Verhältnis gehört dazu, wie die Erkrankung selber, eine Behinderung oder eine andere Lebensform. Aber was macht das Mutter-Kind-Verhältnis aus? Zum Beispiel Vertrauen zwischen ihnen. In unserer Geschichte mehrmals gebrochen. Mutter bleibt Mutter, aber wie weit lässt man dann gewisse Dinge noch an sich ran?

8 Kommentare

  1. Ganz schwieriges Thema. Mich treibt die Frage: „Darf ich mich von meiner Mutter lösen, wenn sie mir nicht gut tut?“ schon seit 20 Jahren um. Schuldgefühle inkl. Aber seit ich mich -nicht mit einem kompletten Kontaktabbruch- aber mit einer innerlich hochgezogenen Mauer gegen meine Mutter schütze geht es mir deutlichst besser.

  2. Knodel Inge sagt

    Lebe Dein Leben. Verschließe alle schlechten Erinnerungen , Ängst, Mitleid und alles was Dein Herz belastet in eine Schublade in Deinem Langzeitgedächtnis. Mache diese Schublade nie mehr auf. Du kannst diese Lade auch auf den Mars schießen. Sie exestiert für Dich nicht mehr. Sei glücklich so wie Du bist, Du bist stark, Du schaffst alles was Du machen möchtest. Habe bitte, bitte kein schlechtes Gewissen. Du hast Dein Leben und alles Glück der Welt steht Dir zu. Für die Erkrankung, der Frau die Dich geboren hat, kannst Du nichts. Bitte, Bitte lebe Dein Leben so wie Du möchtest und sei glücklich.
    Liebe Grüße Inge

  3. Kim sagt

    Ich habe eine manisch-depressive Freundin. Sie ist meine älteste Freundin und eine meiner besten. Sie hat zwei Kinder. Und sie ist unter all meinen Freundinnen mit Kindern für mich ein grosses Vorbild und eine Inspiration. Denn sie ist eine wundervolle Mutter. Ihren Kindern geht es fantastisch,und zwar insbesondere weil genau ihre Mutter ihre Mutter ist. So sehr ich die Autorin des obigen Artikels verstehen kann: Es gibt Wege, mit der Krankheit so zu leben, dass ein Eltern-Kind -Verhältnis nicht darunter leiden muss. Sicher darf es nicht Aufgabe der Kinder sein, du Höhen und Tiefen abzufedern,wie es bei der Autorin offenbar der Fall war. Es Bedarf eines unterstützenden Umfeldes. Aber der Eindruck,eine manisch-depressive Mutter sei keine gute Mutter spiegelt keinesfalls die Wahrheit in jedem Fall wieder.

    • Im Namen der Beitragsverfasserin –

      Meine Mutter mit manischer Depression ist definitiv kein Typus einer Betroffenen mit manischer Depression. Die Krankheit zeigt und wirkt sich so unterschiedlich aus, wie es Betroffene gibt. Jede Betroffene ist anders und kann anders damit umgehen bzw. lässt sich helfen oder nicht – Was natürlich auch ein Ent- oder Belastung für die Angehörigen darstellt. Ein Betroffener oder eine Betroffene ist kein schlechter Mensch, ganz im Gegenteil. Sie sind besorgt, feinfühlig, oft äußerst sensibel oder eben enorm Willensstark. Eigentlich positive Eigenschaften. Mit einer psychischen Erkrankung aber auch ein Risiko. DAS hier ist unsere/meine Geschichte, ein persönlicher emotionaler Rückblick und der Versuch zu sensibilisieren. Man schaut den Menschen eben nur vor den Kopf und vieles ist so schwer zu verstehen und zu akzeptieren weil es von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Das Mutter-Kind-Verhältnis gehört dazu, wie die Erkrankung selber, eine Behinderung oder eine andere Lebensform. Aber was macht das Mutter-Kind-Verhältnis aus? Zum Beispiel Vertrauen zwischen ihnen. In unserer Geschichte mehrmals gebrochen. Mutter bleibt Mutter, aber wie weit lässt man dann gewisse Dinge noch an sich ran?

  4. Katharins sagt

    Ich kenne dieses Schicksal aus eigener Erfahrung. Mache dies seit 25 Jahren mit meinem Vater durch, allerdings ist meine Familie noch intakt, weil meine Mutter zu ihm gehalten hat. Der Preis dafür ist Einsamkeit in der Beziehung. Dennoch weiß ich, das es meinen Vater ohne meine Mutter nicht mehr geben würde. Dafür danke ich ihr. 🙂

  5. Kerstin sagt

    Ich wünsche Dir ein Glückliches Leben ohne schlechtes Gewissen. Deine Mutter kann nichts für ihre Krankheit : DU aber auch nicht. Es ist eben sehr traurig gelaufen und ich bin froh, dass du einen Vater hast, der dir – trotz alkem- eine teilweise unbeschwerte Kindheit ermöglichen konnte. Es wundert mich trotzdem, dass du durch die erzwungenen Wochenenden hoffentlich recht unbeschadet durchgekommen bist. Wenn ich mir meinen eigenen 6jährigen Sohn dabei vorstelle….wie furchtbar.
    Ich wünsche dir sehr viel Lebensglück und eine Mutter, die vielleicht in einem hellen Moment verstehen kann, dass Loslassen für dich der größte Liebesbeweis wäre.
    LG Kerstin

  6. So etwas ist absolut schrecklich für ein Kind und ich ziehe meinen Hut, dass du alles mit so großer Vernunft gemeistert hast. Ich kann dich gut verstehen, dass du den Kontakt so minimierst. Ich hatte über 15 Jahre den Kontakt zu meiner Mutter auch abgebrochen, da sie mit Alkohol meines Erachtens ein riesiges Problem hatte und sich die Auswirkungen auch mir gegenüber zeigten. Es waren die schönsten Jahre meines Lebens, denn ich konnte Leben, ohne mir Gedanken zu machen, wie es ihr ging oder was sie mir nun im Rausch wieder alles unterstellte. Ich wünsche dir von Herzen, dass du dich ganz lösen kannst, denn eine Verpflichtung auf Lebenszeit für unsere Eltern haben WIR Kinder wahrlich nicht unterschrieben!

    LG Katrin

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