Nach dem Abi stellte sich mir die Frage, was nun? Den Studienplatz, den ich wollte, bekam ich nicht (ich bin furchtbar dankbar darüber inzwischen) und dann habe ich wild umhergegoogelt und dachte mir, ich mache ein FSJ. Der Liebe wegen zog ich von daheim aus und bekam eine FSJ Stelle an einer Schule für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche. Ich sollte einen Probetag dort verbringen und war natürlich mächtig aufgeregt. Die Gruppe, die ich begleiten sollte, waren Teenager, mitten in der Pubertät. Ich kannte die einzelnen Persönlichkeiten nicht und wusste am Anfang ehrlich nicht, wie ich mit den Kindern/Jugendlichen umgehen sollte. Nicht, das ihr jetzt was Falsches von mir denkt, eine meiner ältesten und besten Freundinnen hat das Prader-Willi-Syndrom und es war nie ein Thema, wie ich mit ihr umgehen soll oder so. Sie ist einfach so und das ist gut so. Wir kommen prächtig miteinander aus.
Naja, zurück zum Thema. Ich war nun an diesem Probetag dort und kam mir unendlich verloren vor. Bis mich in einer Pause ein kleiner Junge ohne Berührungsängste bei der Hand nahm und mit mir Tischkickern wollte. Dumm nur, dass ich keine Ahnung hatte, wo die Bälle für das Ding waren. Aber diese kleine Geste hat ausgereicht, mich davon zu überzeugen, dass dieses FSJ „mein“ Jahr werden würde. Ohne mich zu kennen oder ein Wort mit mir zu sprechen hat dieser Junge mich überzeugt, hier zu bleiben.
In der ersten Schulwoche dann schnupperten wir fünf FSJler in die verschiedenen Stufen, die eine zusätzliche Betreuung durch uns bekommen würden. Schnell kristallisierte sich heraus, dass ich in der Gruppe der Grundstufe vier bleiben würde. Es waren acht Kinder, genau vier Mädchen und vier Jungen. Was die Kinder im Einzelnen für Besonderheiten hatten, war mir eigentlich egal. Fakt ist, sie haben mein Herz im Sturm erobert. Jedes einzelne. Es vergeht eigentlich kaum ein Tag, an dem ich nicht an meine Süßen denke und das FSJ ist nun bald sechs Jahre her! Es war eine wundervolle Zeit in der ich mehr lernen durfte als in meinem ganzen Leben.
Sehr berührend war die Erfahrung mit einem autistischen Jungen. Am Anfang sollte ich neben ihm sitzen, damit er sich an mich gewöhnen konnte und mich kennen lernen konnte. Eines Mittags sollte ich in einer anderen Gruppe aushelfen, da dort eine Lehrerin ausgefallen war und wir in meiner Gruppe zu dritt waren. Gut, zum Schulschluss kehrte ich wieder in meine Gruppe zurück, um beim Anziehen zu helfen. Und besagter Junge kam auf mich zu, nahm meine Hände in seine und sagte: „Wo warst du?“
Das war für mich der Beweis, ich gehörte nun dazu! Wenn er mich akzeptiert hatte, dann gehörte ich wirklich in diesen kleinen elitären Kreis! Mein Aufgabengebiet umfasste eigentlich alles. Betreuung bei Aufgaben, Windeln wechseln, aufs Klo gehen, umziehen. Was halt so anfällt im Unterricht. Das Highlight der Woche bei den Kindern war freitags das Schwimmen.
Ich genoss den täglichen Unterricht. Es war wundervoll zu sehen, wie die Kinder lernten und sich entwickelten. Es ist ein tolles Gefühl, wenn du wochenlang Schuhebinden übst mit einem Kind und es schreit, dass es seine Schuhe nicht selbst binden möchte und es dann auf einmal einen Hebel umlegt und es völlig selbstverständlich die Schuhe bindet. Oder zu beobachten, wie die bloße Anwesenheit einer anderen Person ein Kind anders reagieren lässt. Ein Schüler hat eine neue Betreuungskraft, die zum zweiten Schulhalbjahr kam, nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Hat so getan, als könnte er keinen Stift halten. Ich habe mich ehrlich gesagt damals prächtig amüsiert, denn bei mir konnte er einen Stift halten und gemeinsam haben wir seinen Namen geschrieben. Wir haben zusammen auch plus und minus rechnen gelernt. Aber er wollte testen, was „die Neue“ so mit sich machen lässt und von meinem Beobachtungsposten am Tisch (während ich mit drei anderen Kindern Mathe gemacht habe) sah es wirklich zum Brüllen komisch aus. Völlig normaler Schulalltag- wie weit kann man gehen?! 😉
Einmal bekam ein Mädchen direkt neben mir einen epileptischen Anfall, glücklicherweise fiel sie mir direkt in den Arm, sonst wäre sie vom Stuhl voll auf den Boden gefallen. Es war für mich ein großer Vertrauensbeweis, als sie danach, während wir im Ruheraum auf ihre Mama gewartet haben, die ganze Zeit meine Hand halten wollte. Einfach, weil sie nicht alleine sein wollte und spüren wollte, dass jemand bei ihr war.
Es ist auch herrlich, welche Komik die Kinder an den Tag legen: einmal gab es im Matheunterricht für jedes Kind ein kleines Kaubonbon zur Belohnung. Einer meiner Jungs schiebt sich vor meinen Augen das Bonbon in den Mund, kaut genüsslich darauf herum und sagt knallhart zu mir: „Wenn du weiterhin diese schrecklichen Bonbon isst, wirst du so fett werden, dass du nicht mehr bewegen kannst.“ Ich habe Tränen gelacht, denn die Biene Maja Folge, aus der das entlehnt wurde, kenne ich sogar noch 😉
Kurzum, diese Kinder haben mir einen neuen Blick auf die Welt ermöglich, mein Herz geöffnet und werden dort für immer einen Platz haben. Wir haben wundervolle Zeiten miteinander erlebt und sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Manchmal war es für uns alle schwierig, aber gelernt haben alle was dabei, am meisten aber vermutlich ich.
Zum Abschied bekam ich von jedem Kind ein selbstgemaltes Bild (oder zwei) und eine Collage mit Fotographien unserer gemeinsamen Zeit- alles hängt in meinem Studentenzimmer und gehört einfach dazu. Oft träume ich sogar noch von „meinen“ Kindern und sie fehlen mir unglaublich. Da scheint es ziemlich verwunderlich, dass ich nicht irgendwas in die Richtung Sonderpädagogik oder so studiere- ich habe mich tatsächlich fürs Gymnasiale Lehramt entschieden. Auch das bereue ich nicht, aber ich werde niemals mein wundervolles FSJ mit den tollsten und besondersten Kindern dieser Welt vergessen!
Vielen Dank für diesen offenen Einblick in dein FSJ.
Ja, ich denke auch, dass ein FSJ einem Menschen viel bringen kann. Gerade die junge Generation tut sich schwer mit ihrer Studien/Ausbildungsplatzwahl und so ein Jahr kann zudem den Menschen die Individualität der Einzelnen näherbringen. Und für die Zukunft werden Sozialkompetenzen immer wichtiger. Nicht nur im Hinblick auf Behinderte und Inklusion, sondern auch im Hinblick auf die Flüchtlinge.
LG Carina
Habe gerade dasselbe wie Judith gedacht. Du bist sicherlich genau die richtige Perdon, die später Inklusion leben und lehren kann. Gott sei Dank gibt es Menschen wie dich.
Gerade in der Zeit, wo Viele schon nach 12 Jahren Abitur machen, sollte es vielmehr gefördert werden, dass man dann ein FSJ dranhängt : ich bin mir sicher die Meisten hätten dadurch einen Gewinn für ihr weiteres Leben .
LG Kerstin
Danke für diese wunderschönen Anekdoten aus deiner FSJ-Zeit, man spürt beim Lesen deine Herzenswärme für die Kinder! Vielleicht hast du ja später die Chance, am Gymnasium mit I-Platz-Kindern zu arbeiten…du wärst ganz sicher die Richtige dafür!
Liebe Grüße und alles Gute für dich und dein Studium
Judith