Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #36 Menschen passen nicht in Schubladen

Vor knapp 9 Jahren haben wir die Entscheidung gefasst einem kleinen Menschen, der biologisch nicht mit uns verwandt ist, dauerhaft ein neues zu Hause geben zu wollen.

Die Entscheidung kam nicht „aus dem Nichts“ … zuvor hatten wir 4 Jahre als Bereitschaftspflegefamilie gelebt. Wir wussten also, wie es sich anfühlt, ein „fremdes“ Kind in den eigenen Alltag zu integrieren, aber diesmal sollte es anders sein … es sollte etwas langfristiges sein … ein echtes neues Familienmitglied!

Wie anders es ist, weil es eben nicht mehr „Besuch auf -wenn auch manchmal lange- Zeit“, sondern Familienzuwachs ist, kann keine Theorie beschreiben … zum Glück, denn ich weiß nicht, ob wir es uns sonst auch getraut hätten …

Im Herbst 2006 lernten wir ihn (ich nenne ihn hier aus Datenschutzgründen Paul) kennen … Paul!

Paul wurde während unserer Anbahnung (die Kennenlern-Phase) 2 Jahre alt. Er war jedoch von Anfang an anders als andere Kinder. Er hatte kaum Schmerzempfinden, kannte keine Grenzen, konnte keinerlei Hilfe annehmen,stand immer unter Strom.Paul war massiv autoagressiv, das heißt, er verletzte sich selbst, riss sich Haare aus, biss sich die Hände blutig, ließ sich einfach fallen (auch auf Fliesen), schlug mit dem Kopf auf den Boden …

Seine leibliche Mutter hatte während der Schwangerschaft einen enorm hohen Alkoholkonsum. Paul musste (und muss nach wie vor) die Folgen ausbaden.

Trotz der ganzen Auffälligkeiten haben wir uns in Paul verliebt. Es war uns klar, dass es eine enorme Herausforderung sein würde mit ihm ansatzweise normalen Alltag zu leben. Wir waren uns auch darüber im Klaren, dass die Entscheidung Paul in unsere Familie auf zu nehmen, auch für unseren leiblichen Sohn (der damals gerade 4 Jahre alt war) eine Herausforderung sein würde.

Wir besuchten Paul von da an täglich. Nach knapp 6 Wochen zog er dann bei uns ein …

Heute , knapp 9 Jahre nach Pauls Einzug, sind die Jungs richtige Brüder.

Das Leben mit Paul ist nach wie vor sehr anstrengend, aber auch um viele Erfahrungen reicher, bunter und herzlicher! Paul ist auf seine Art ein ganz besonderes Kind. Er ist nicht immer leicht zu verstehen, brauchte (und braucht) einiges an Unterstützung, sowohl im Alltag , als auch in therapeutischer Hinsicht.

Paul hat einen Schwerbehindertenausweis und eine Pflegestufe … ansehen tut man ihm seine Behinderung nicht. Das ist allerdings manchmal auch das fatale, denn er wird von Fremden häufig falsch eingeschätzt … FAS (Fetales Alkohol Syndrom) ist die einzige 100% vermeidbare Behinderung …

Aber Paul ist ein auch begnadeter Fussballer, er schwimmt gut und gerne, liebt Seehunde und will später Feuerwehrmann werden, er ist ein „richtiger Junge“.

Paul fällt immer noch aus dem Rahmen, kann zB keine „normale“ Grundschule besuchen, aber er wird seinen Weg gehen und wir werden an seiner Seite sein!

Wenn Paul so Dinge sagt wie „Ein Dach über dem Kopf oder ein Zuhause zu haben, das ist ein Unterschied!“ mich dann drückt und mir in die Augen schaut und sagt: „Mama, ich habe ein Zuhause!“ … dann weiß ich, es ist alles gut, so wie es ist!

Mittlerweile ist Paul auch noch großer Bruder. Wir haben unsere Familie erneut vergrößert und vor gut 5 Jahren Zwillinge aufgenommen,die ähnliche Startbedingungen im Leben hatten wie Paul.

Nun sind wir also zu sechst! Unser Leben ist immer herzlich, meist bunt & chaotisch, oft anstrengend,manchmal laut, selten „normal“ und nie langweilig!

Menschen passen nicht in Schubladen und das ist auch gut so!

5 Kommentare

  1. Kerstin sagt

    Ich bewundere Menschen wie Sie und wie sehr werden Sie in dieser Welt gebraucht. Paul hatte unglaubliches Glück bei Ihnen „gelandet“ zu sein und dort – wie schön das ist- ein Zuhause gefunden zu haben. Sie sind unbezahlbar. Und ich bin mir sicher Sie erziehen vier wunderbare Menschen, die alle, ob mit oder ohne Handicap fürs Leben das im Gepäck haben, was am Ende wirklich zählt: Luebe,Rücksichtnahme, Vertrauen und einen Blick für das Gute im Anderssein.

  2. Norrie sagt

    Ich habe Tränen in den Augen. Wie wunderbar, dass ihr Paul eine Zuhause und nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten konntet. Und wie herzzerreißend, dass seine Probleme vermeidbar waren.

  3. Anne von X-MAL ANDERS sagt

    Der letzte (sehr richtige ) Satz trifft meiner Meinung nach besonders auf jene Menschen zu, bei denen die Andersartigkeit nicht „verständlich“ anzusehen ist. Ich meine, wo der Grund für die Besonderheit nicht offensichtlich ist… Ein gebrochenes Bein mit Gips erzeugt Verständnis und Mitgefühl. Ein „komisches“ Verhalten ohne ersichtlichen Grund erzeugt Fragezeichen und meist leider Schubladen, die eigentlich nicht passen.
    Vielen Dank für den interessanten Erfahrungsbericht! Und alles Gute für die Großfamilie
    Viele Grüße Anne

  4. Hej!
    Ich freue mich, dass es Menschen wie euch gibt und ich habe großen Respekt vor dem was ihr tut! Meine Freundin hat vor 12 Jahren 4 Geschwisterkinder aufgenommen, die alle einen ähnlichen Start hatten und eins der Kinder ist auf den Rollstuhl und ständige Hilfe angewiesen, weil er schweren Sauerstoffmangel bei der Geburt hatte.. Da gibt es viele Höhen und Tiefen. Ich habe einige der Kinder als Physiotherapeutin eine Weile begleitet und die Geschichten der Kleinen haben mich zutiefst berührt. was haben sie in ihrem kleinen Leben nicht schon alles erlebt.
    Ich wünsche euch ein schönes sonniges Herbstwochenende und einen bunten Herbst
    Claudia

  5. Knodel Inge sagt

    Ich bin glückliche Oma von 5 Enkelkinder bisher alle gesund und munter aber auch mit einigen Macken die ja jeder von uns hat. Mir kommen die Tränen wenn ich lesen oder sehe was Alkohol anrichtet. Wie kann man in einer Schwangerschaft ob gewollt oder auch nicht sich mit Alkohol zu schütten. Alkoholiker sind krank ohne zweifel aber jeder weis doch von dem Spätfolgen für die ungeborenen Kinder. Ich war in 1. Ehe selber mit einem Alkoholiker verheiratet. Ein ganz lieber Mensch.Ich wollte für meinem kleinen Sohn und mich so ein Leben stets ohne Geld und ständige Angst nicht leben. Wir ließen uns im gegenseitigen Einverständnis mit nur einem Anwalt vor 35 Jahren scheiden. Im Rückblick war das für mich die richtige Entscheidung. Vor ihnen kann ich nur den Hut ziehen vor soviel Mut und Liebe.

Kommentare sind geschlossen.