Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #116 „Wenn ein Kind so komisch aussieht macht uns das immer stutzig“

Unsere kleine Knödel nach ihrer Geburt in meinen Händen zu halten, sie zu streicheln, ihren wunderbaren Duft einzuatmen und sie ganz dicht an mir zu fühlen war wieder so ein wunderbar großartiges Ereignis, das man am liebsten für immer festhalten möchte. Sie war so wunderschön mit ihrem kleinen Mund und den ebenmäßigen Gesichtszügen. So schön wie es nur ein Baby sein konnte. Alles war gut – so schien es. Keine Auffälligkeiten. Gesundes Kind, glückliche Eltern, alles prima. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht auszudenken, dass jemand mal einen solchen Satz über sie sagen würde. Über unser Wunder.

11 Stunden später finden wir uns im Gang der kardiologischen Kinderintensivstation wieder. Drinnen wird gerade unsere Tochter an Kabel und Monitore angeschlossen und mit für sie lebenswichtigen Medikamenten versorgt. Ein Albtraum für alle Eltern. Sie lag doch gerade noch bei mir im Bett und ich versuchte sie zu stillen. Jetzt liegt sie in diesem sterilen Babybett ohne ihre Mama und ich sitze draußen auf dem Flur – ohne sie. Getrennt was doch eigentlich zusammen gehört. Ich weiß noch, dass ich laut weinte. Um mich herum war alles so furchtbar laut. Die Ärzte, die versuchten mit uns zu reden, die piepsenden Geräte, die herumlaufenden Schwestern und Pfleger aber innerlich war ich wie ohnmächtig. Die an mich gerichteten Worte ergaben ein riesiges Gedankendurcheinander in meinem Kopf. Das einzige was ich wollte war mein Kind. Ein so einfacher Wunsch der in diesem Moment so schwer zu erfüllen war.

Nachdem Knödel an alle Geräte angeschlossen war durfte ich endlich zu ihr und sie sogar halten. Ihre Haut an diesem furchtbaren sterilen Kittel, den ich überziehen musste. Zwischen ihrem wunderschönen Gesicht und meinem ein Mundschutz. Aber ihr Geruch war noch da. Ich sog ihn förmlich in mich ein. Mein Kind – ihr Leid war mein Leid in diesen Stunden und von nun an für immer.

Knödel hat einen schweren Herzfehler – das stand fest. Wie schwer und ob er operabel sein würde konnte uns zu diesem Zeitpunkt niemand sagen. Erst nach unendlich lang scheinenden 5 Tagen konnten wir unsere Kleine mit nach Hause nehmen und es stand fest, dass der Herzfehler zwar schwer aber korrigierbar war. Die erste positive Nachricht. Damals wurde noch in den Raum geworfen, dass sie einen Immundefekt haben könnte. „Kinder mit diesem Herzfehler haben das oft“, sagte die Ärztin. Dieser Satz war gesagt und von uns gleich wieder verdrängt worden, denn für uns schien der Herzfehler nach allem was uns erklärt wurde, der dominierende Bestandteil ihrer Erkrankung zu sein. Im Alltag haben wir diese Anmerkung natürlich berücksichtigt, aber da sie kaum krank war in den ersten Monaten haben wir uns darüber keine intensiven Sorgen gemacht. Der Satz sollte aber nicht vergessen sein.

Im Alter von drei Monaten hatte unsere zarte kleine Knödel dann ihre Korrektur OP am offenen Herzen. Es folgten furchtbare Tage der Ungewissheit, ob sie es schaffen würde und ob ihr Körper diesen großen Eingriff gut überstehen könnte. Nach wenigen Tagen war sie über den Berg. Sie hatte es geschafft. Jetzt würde alles gut werden. Dann kamen die Ärzte und machten uns darauf aufmerksam, dass man ja anhand eines Gentests noch ihre Immunschwäche untersuchen wollte. Wir stimmten zu, denn das war natürlich wichtig zu wissen. Als ich die Ärztin dann eine Woche später fragte, wie das Ergebnis sei, antwortete sie mir: „Das Ergebnis wegen des Digeorge Syndroms ist noch nicht da.“ Verwunderung in meinen Augen aber ich fragte nicht nach weil in meinem Kopf schon wieder Alarmglocken angingen und ich nur überlegte von welchem Syndrom sie nun bloß redete. Sie musste sich vertan haben, ging es doch „nur“ um die Klärung einer Immunschwäche. Ich tat das unmöglichste was man als Mama in dieser Situation tun kann, ich las im Internet nach. Google – Digeorge Syndrom. Die ersten zwei Ausprägungen dieses Gendefektes: Herzfehler, Immunschwäche…Ich las nicht weiter. Sie hatte sich nicht vertan. Das war unser Kind.

Am nächsten Tag fragten wir natürlich nach wie wahrscheinlich es ist, dass unsere Tochter dieses Syndrom hat und der Arzt sagte nur: „Wenn ein Kind so komisch aussieht macht uns das immer stutzig.“ Bitte? Unser Kind sieht „komisch“ aus? Im Leben habe ich nichts „komisches“ an ihrem Aussehen gefunden und auch niemand sonst hat uns jemals darauf angesprochen, dass etwas nicht „stimmt“. Wir haben das süßeste Baby der Welt. An ihr ist nichts „komisch“. Diese Worte machen mich heute noch sprachlos. An Eltern, die so viel durchgemacht haben solche Worte zu richten. Uns und vor allem unserem Kind so wenig Feingefühl und Verständnis entgegen zu bringen war schockierend. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die Ärzte die einzelnen Schicksale dieser Kinder nicht an sich heranlassen können. Das ist auch verständlich aber ein wenig Empathie schadet doch auch hier nicht. Das war zum Glück eine Ausnahme und solche Aussagen uns gegenüber kamen nie wieder vor. Ich weiß diesen Arzt fachlich weiterhin sehr zu schätzen. Er ist einer der Menschen, der dafür gesorgt hat, dass unser Kind bei uns sein kann. Das werde ich ihm nie vergessen. Ich denke ich habe mit der Zeit gelernt, das eine von dem anderen abzugrenzen.

Es sollte sich zwei Wochen nach dem Test bestätigen – Knödel hat das Digeorge Syndrom.

Noch niemals zuvor hatte ich von diesem Syndrom gehört. Nach einiger qualitativ hochwertiger Recherche und Rücksprache mit Ärzten war uns klar, dass dieses Syndrom sehr vielfältig sein konnte. Menschen mit diesem Gendefekt konnten alle Anzeichen aufweisen bis keine. Man empfahl uns eine Aufklärung beim Gendiagnostiker. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden.

Wir möchten unsere Knödel so sehen wie sie ist und nicht auf Ausprägungen warten, die irgendwann mal zu Tage treten könnten. Vielleicht tun sie es, vielleicht tun sie es auch niemals. Sie hat eine Herzschwäche und eine Immunschwäche. Sie ist motorisch nicht altersgemäß entwickelt aber niemand kann in diesem Alter sagen, ob es an dem Syndrom oder an der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit durch ihren Herzfehler und die OP in den ersten Monaten liegt. Wahrscheinlich wirkt hier beides zusammen. Wir könnten diesen Termin natürlich noch nachholen aber wir sehen momentan keine Notwendigkeit dafür. Das was wir wissen müssen, wissen wir. Ihr Gesundheitszustand und ihre Fortschritte werden engmaschig kontrolliert. Ich möchte aber nicht mein Leben lang auf etwas warten was vielleicht nie kommt. Und auch sie soll mit dieser Angst und diesen Gedanken nicht aufwachsen.

Unsere Knödel entwickelt sich großartig in ihrem eigenen Tempo. Aus ihren Augen strahlt die pure Lebensfreude und wenn sie lacht wird der Raum mit Freude erfüllt. Sie liebt ihre Schwester und bekommt so viel Liebe zurück. Sie ist das Puzzleteil, das uns gefehlt hat. Ich bin mir sicher, sie hat uns ausgesucht, weil sie genau wusste, dass sie mit dem Gepäck was sie dabei hat bei uns genau richtig ist. Wir helfen ihr tragen. In schweren Zeiten hilft sie uns durch ihre unbändige Energie und ihre Freude am Leben immer wieder neuen Mut zu fassen.

An unserer Kleinen ist nichts „komisches“. Sie ist besonders so wie jedes andere Kind für sich auch besonders ist. Der Satz des Arztes wird nicht ihren Weg im Leben ebnen, dafür werden wir gemeinsam sorgen. Ich muss sie häufig bei anderen Menschen erklären und tue es natürlich gerne, da es zu einer aufgeklärteren Gesellschaft beiträgt. Einen ersten Schritt in diese Richtung habe ich mit der Gründung meines Blogs getan. Ich hoffe, dass ich unserer Kleinen die Selbsterklärung für später ersparen kann. Sie muss sich nicht verstecken. Sie soll frei aufwachsen können ohne dass jemand über sie sagt, sie sei „komisch“. Ein Traum den ich für sie träume. Träume halten uns am Leben und ein Teil davon wird wahr werden. Da bin ich mir sicher.

Mehr über Sonja und ihre Familie erfahrt Ihr auf dem Blog Zweimalwunder

4 Kommentare

  1. Steffi sagt

    Wir waren noch völlig ahnungslos und dachten, wir klären lediglich ab, warum unser Kind mit 18 Monaten noch nicht läuft. Arzt guckt Kind an, setzt sich an seinen Computer und sagt rumtippernd nebenbei: „Machen wir uns nichts vor. Ihr Kind ist behindert.“

    Ich frage mich bis heute, ob Ärzte keine Psychologiefortbildungen für Patientengespräche kriegen. Das kann doch nicht sein.

    • Oh nein, das ist mal wirklich voll daneben 🙁

      Vielleicht sollte ich mal einen Beitrag machen mit Zitaten und Aussagen von Ärzten, mit denen wir uns alle schon konfrontieren mussten.

  2. Ivonne sagt

    Ich hab schon länger Deine Geschichte gelesen … und sie arbeitet „in mir“ ….

    Danke das Du uns daran teilhaben läßt.

    Unsere jüngste Maus hat das Down Syndrom und auch einen Herzfehler , ich kann ein wenig nachvollziehen wie es Euch nach der Diagose und dem ganzen Procedere ergangen ist.

    Ich wünsche Euch für die Zukunft alles gute *drück*

  3. Annika sagt

    Ich habe Tränen in den Augen!

    Diese Liebe ist so unfassbar schön – reine Liebe! Am Schönsten fand ich den Absatz mit dem Gepäck und dem tragen helfen.

    Mediziner können so unfassbar unempathisch und ausgesprochen nicht feinfühlig sein. Ob sie überhaupt wissen, was sie den Eltern mit solchen Aussagen antun???

    Ihr werdet alle euren harten und schönen Weg gehen – euren Weg … und ich wünsche euch alles Glück dieser Erde und, dass sie nie hören muss, dass sie „komisch“ sei!

    Liebe Grüße von Annika

Kommentare sind geschlossen.