Allgemein, Mein Leben mit dem Besonderen

Mein Leben mit dem Besonderen #1 – Pränatale Behinderung

Heute startet meine neue Blog-Rubrik „Mein Leben mit dem Besonderen“. Ich habe lange überlegt wie ich diese Rubrik nennen soll, so ganz rund klingt es für mich noch nicht, aber dennoch passend.

Seit dem Post mit meinen persönlichen Gedanken haben mich einige Mails erreicht, sehr bewegende Mails und auch die Kommentare mit den vielen persönlichen Geschichten fand ich sehr berührend.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir weiterhin per Mail Eure persönliche Erfahrung mit besonderen Menschen schreibt, Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik, Themen, die Euch in diesem Zusammenhang beschäftigen. Ihr müsst noch nicht einmal selbst in irgendeiner Form betroffen sein. Ich freue mich über Eure Texte und würde mich sehr freuen sie nach und nach (immer Freitags) hier zu veröffentlichen (auf Wunsch auch gerne Anonym).

Den Start macht heute Anne vom Blog X-Mal anders, in dem sie über das Ulrich-Turner-Syndrom schreibt. Darüber hinaus hat Anne ganz frisch ein eigenes Buch veröffentlicht und wartet auf die Geburt ihres zweiten Kindes.
Hier schreibt sie über ihre persönlichen Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik.

Vielen Dank an Anne für den tollen Text und alles Gute für die zweite Geburt.
Euch allen wünsche ich ein schönes Wochenende!

Pränatale Behinderung 
Gedanken von Anne (26 Jahre) mit Mann und Tochter (*Juni 2012) 
Nach einer unbelasteten Schwangerschaft bereitet mir Baby Nummer 2 nun doch Kummer. Einzig dadurch, dass es sich Zeit lässt. Der errechnete Termin ist vorüber und wir warten.
Ich kann auf eine unbeschwerte Schwangerschaft zurückblicken und bin sehr froh, dass mein Mann meine Entscheidung, bei einem zweiten Kind nur die nötigsten Untersuchungen durchführen zu lassen, mitgetragen hat. Ich habe schon vor dieser Schwangerschaft festgehalten, dass die Pränataldiagnostik Fluch und Segen zugleich ist. Es ist faszinierend sein Ungeborenes in 3D zu sehen. Aber wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt. 
Und ich war nicht bereit ihn nochmal zu zahlen. 
Warum? 
In der sechsten Woche wurde meine erste Schwangerschaft festgestellt. In der 11.SSW war die Nackentransparenz auffällig. Die Vorstellung zum frühen Fehlbildungsauschluss in der 13.SSW war dann jedoch ohne Ergebnis. Wir konnten aufatmen. Nicht lange. In der 21. Woche hieß es:  „kontrollbedürftiger Befund hinsichtlich der fetalen Strukturen“. Es folgte ein erneuter Gang zur Ultraschallfeindiagnostik in der 23. Woche. Dabei wurden eine singuläre Nabelschnuraterie, eine Herzanomalie (Verengung der Aortenklappe) und eine vergrößerte „Cisterna magna“ (ein mit Hirnflüssigkeit gefüllter Raum) festgestellt. Wir wurden über die Möglichkeit der genetischen Beratung informiert. Im Anschluss an dieses Gespräch entschieden wir uns für eine Chorionzottenbiopsie (Gewebeentnahme aus dem Mutterkuchen). Wir wollten zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft einfach nur irgendein Ergebnis. In der 24. SSW erfolgte die invasive Diagnostik und zwei Tage später wurde uns das Ergebnis mitgeteilt. Es lautete ungefähr so:
Statt der üblicherweise 46 Chromosomen sind nur 45 in den Körperzellen vorhanden. Das Geschlechtschromosom ist nur einmal vorhanden. Diese Monosomie X führt zu Symptomen des Ullrich-Turner-Syndroms. 
Aus medizinischer Sicht waren zu diesem Zeitpunkt die Herztätigkeit und die fetalen Strukturen kontrollbedürftig. Diese Kontrollen erfolgten in der 28. und 33. SSW. Danach gab es noch zwei Termine im Krankenhaus zur Geburtsbesprechung und kardiologischen Begutachtung. Es wurde geplant, dass man nach einer spontan einsetzenden Geburt dem Baby zur Sicherheit ein Medikament gebe. Dann könne in Ruhe das Herz untersucht werden und die anderen Symptome, die möglicherweise mit dem Ullrich-Turner-Syndrom einhergehen, könnten abgeklärt werden. 
39+0 SSW wurde dann der Tag X. Die Geburt. 
Zwischen den Untersuchungen, vielmehr zwischen der auffälligen Nackenfalte und der Geburt liegt keine unbekümmerte Schwangerschaft. Angst machte sich breit. Unaufhaltsam. Ein ständiges Grauen war mein Begleiter. Rückblickend frage ich mich: Was hatte ich davon? Was hat es mir gebracht, dass mein Ungeborenes untersucht wurde? Dass eine Biopsie vorgenommen wurde? Ich konnte mich mit einem Thema und ganz vielen Eventualitäten auseinandersetzen. Ich war traurig. Oft war ich auch wütend und frustriert. Alles Empfindungen, die ich nicht mit einer Schwangerschaft verbinde. Dass sie nicht jeden Tag das pure Glück ist, ist mir vorher schon klar gewesen. Aber so viele schlechte Gefühle und Stress sollte kein Ungeborenes erleben. 
Behinderung 
Was ist eine Chromosomenaberration? Was macht das Ullrich-Turner-Syndrom (UTS)? Anomalie, Auffälligkeit, Syndrom – all diese Worte machten meine Tochter zu einem anormalen Wesen. Sie machten sie behindert. Heute kann ich selbstbewusst sagen: Nein, meine Tochter ist nicht behindert. Ihr Chromosomensatz ist verändert. Das ist alles. Und DAS macht sie auch nicht behindert. In der Schwangerschaft wussten wir nicht, wie unsere Tochter mit dem UTS sein würde. Die Auffälligkeit am Herzen und auch die „Nackenfaltengröße“ waren scheinbar typische Merkmal. Aber für was? Was sollte noch dazu kommen? Sollte sie wirklich schwerwiegende gesundheitliche Probleme haben, die ein zukünftiges lebenswertes Leben nicht zulassen? 
Schlussendlich brachte mir die weiterführende Feindiagnostik nur eins: Kummer.
Heute sehe ich meine wunderschöne und eigensinnige Tochter und frage mich manchmal: Wo sind sie den nun, die lebensunwürdigen und -begrenzenden Folgen und Schwierigkeiten? Versteht mich nicht falsch, ich bin glücklich, dass es ihr so gut geht. Wenn man einen Makel an ihr finden will, weil da eine Diagnose gestellt wurde, kann man das. Muss man aber nicht. Im Kleinen – für die meisten Menschen verborgen – lassen sie sich auch erkennen die UTS-typischen Besonderheiten. Aber auch die machen sie nicht weniger wundervoll oder behindert. 
Entscheidung
Baby Nummer 2 (Geschlecht ungewiss) ist noch nicht geboren. Am Anfang habe ich mich gefragt, ob es die richtige Entscheidung war, nur die nötigsten Untersuchungen zu machen. Heute kann ich sagen: Auf jeden Fall! Ich war unbelasteter, insgesamt ausgeglichener und ruhiger in dieser Schwangerschaft. Je näher der Geburtstermin rückte und jetzt nach seinem Verstreichen, frage ich mich natürlich, wie unser Baby sein wird. Ich will es sehen und halten. 
Und sollte irgendetwas an diesem Baby nicht der Norm entsprechen, sollte es behindert sein, dann ist das so. Ich brauchte mich nicht vorher verrückt zu machen. Ich werde dieses Baby lieben. Wir werden es lieben. Einfach so. 
Ich kann meine – vielmehr unsere – Entscheidungen von damals nicht rückgängig machen. Ich kann aber daraus lernen. 
Und ich kann nur sagen: Lasst euer Ungeborenes nicht behindert werden. Natürlich sind alle Fälle individuell und es lässt sich nichts verallgemeinern. Aber nur die Worte „Syndrom“ und „Anomalie“, ohne alle Ausprägungen zu kennen, wie bei uns, sollten kein Grund für mögliche schwerwiegende Folgeentscheidungen sein. Die Monosomie X bzw. das Ullrich-Turner-Syndrom ist nicht sehr bekannt. Fragen und Gedanken dazu gerne an: xmalandersuts@gmail.com

Mir und uns hat Vertrauen in mich, das Baby und die Natürlichkeit einer Schwangerschaft sehr viel mehr gebracht als die Untersuchungen. Man sollte sich wirklich überlegen, ob sie nötig sind.

8 Kommentare

  1. Bin gerade per Zufall auf deinen Blog gestoßen … und finde diese Rubrik echt klasse …
    Ich bin selber mit so einen besonderen Kind 5 Jahre lang in eine Klasse gegangen und kann nur staunen wie lebensfroh das Mädchen ist …. Da kann sich manch einer eine Scheibe abschneiden … Das ist auch der Grund warum ich in beiden meiner Schwangerschaften keine Nackenfaltenmessung gemacht habe denn es sind Kinder … meine Kinder … und egal ob mit oder ohne Handicap es sind besondere Kinder …. Ich finde es echt klasse wie ihr das alles hin kriegt und stöber gerade seit einer stunde dein Blog durch … und noch ein fettes Danke denn ich glaub das macht ganz vielen Personen die auch Berührungsängste haben mut … LG Pütschi

  2. Ein schöner Beitrag!
    Auch wenn eure Maus ein wenig "anders" ist,
    ist sie absolut ZUCKER!!!!!
    Liebe Grüße
    Nadine

  3. Wie gut! Herzlichen Dank für die Worte. Ich wollte schon wegklicken, weil ich allzu berührende Texte momentan (ziemilch schwanger) meide. Aber dieser bestätigt meinen Weg. Diesmal nur das nötigste, was alles unnötig war beim letzten Mal wurde mir erst hinterher bewusst. Man rutscht da rein und denk es sei richtig, weil "man das so macht". NEIN! Denkt selbst!

  4. Sehr schöne Einstellung, genau so haben wir es auch gehandhabt. Was bringt es uns, immer noch mehr in Entscheidungen über solche Diagnostiken einzugreifen. Wir nehmen einfach das, was wir vom Leben geschenkt bekommen und machen dann das Beste daraus. 🙂

    LG Katrin

  5. Ein sehr schöner Beitrag, du sprichst mir aus der Seele.
    Wenn ich dazu bereit bin werde ich auch unsere Geschichte aufschreiben. Immer kann ich das leider nicht.

    Lg Manuela

  6. Dieser bericht hat mich erschüttert. Was bringt uns menschen all dieser Fortschritt in der Medizin? Und die guten alten Hebammen werden zur Aufgabe gezwungen. Meine gute alte Frau Plonka hat mir so viel Zuversicht gegeben ( trotz ein paar geringfügiger Nervereien von Ärzteseite )…. Das wünschte ich jeder frau.
    LG
    Astrid

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