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Mein Leben mit dem Besonderen #73 Mein ganz persönlicher „Schaden“

Ich habe einen „Schaden“ und zwar einen ganz besonders schweren „Schaden“. Ich weiß nicht, ob dieser Schaden besonders oder schwer genug für diese Kategorie ist, aber er begleitet mich seit der Geburt unserer Blühwürmchen-Tochter und lässt sich nicht reparieren. Ich vermute, dass ich nicht die Einzige bin, die einen derartigen „Schaden“ erlitten hat, aber ich habe einen Weg gefunden, damit umzugehen und vielleicht hilft es dem ein oder anderen zu wissen, dass er nicht alleine ist.

Meine erste Schwangerschaft verlief weitgehend problemlos. Bis auf die „normalen“ Wehwehchen, die eine Schwangerschaft eben so mit sich bringt, konnte ich die Zeit wirklich genießen. Dies änderte sich schlagartig in der 36. SWS, als das kleine Mädchen in meinem Bauch nicht mehr so gut wuchs und meine Plazenta nach und nach immer mehr verkalkte. Eine riesige Ungerechtigkeit, wenn ihr mich fragt, denn schließlich habe ich in meinem Leben noch nie eine Zigarette angefasst und sowas tritt normalerweise nur bei Raucherinnen auf. Die nächsten 4 Wochen verbrachte ich also damit zu sämtlichen Spezialisten zu laufen, die mich aber allesamt beruhigen konnten. Das Blühwürmchen in meinem Bauch wäre ausreichend versorgt, alles tutti.

Der Geburtstermin war genau an Silvester errechnet worden und so feierten wir ganz vorsichtig ins neue Jahr hinein. Am 1.1. abends setzten dann die ersten Wehen ein. Nicht so schrecklich, dass ich vor Schmerzen hätte schreien müssen, aber so stark, dass an Schlafen nicht zu denken war. Also ab ins Krankenhaus! 20 Stunden lang kämpfte ich dort mit den Wehen und mit den Hebammen, die mich wie eine „rauchende“ Teenieschwangere behandelten (Ich war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt, hatte ein abgeschlossenes Bachelor- und Masterstudium hinter mir und konnte nichts dafür, dass ich anscheinend wie 14 aussah!). Ich hielt mich tapfer und nach 20 Stunden harter Arbeit kam mein Mädchen auf die Welt. Allerdings schrie sie nicht und, wie ich später erfuhr, atmete sie auch nicht. Sie hatte einen Kreislaufzusammenbruch unter der Geburt erlitten, musste schnell wiederbelebt und beatmet werden. Gut, dass es kein Google im Kreissaal gab, denn hätte ich „weiße Asphyxie“ und „Mekoniumaspiration“ gegoogled wäre ich an Ort und Stelle gestorben.

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Ich bekam sie nicht auf den Bauch gelegt, ich konnte sie nur ganz kurz sehen und dann musste sie auf die Intensivstation gebracht werden. Dort wurde sie ziemlich schnell in ein „künstliches Koma“ gelegt und gekühlt, um das Gehirn zu schützen. Ich konnte und durfte sie am ersten Tag nicht besuchen kommen. Ich musste warten und mein armer Mann auch. Der war auch leider nicht durch eine komplette Unwissenheit geschützt wie ich sondern war als examinierter Kinderkrankenpfleger leider voll im Thema drin. Hätte ich um die Lage gewusst, in der mein Kind sich befand, wäre ich auf die Intensivstation gekrochen, hätte die Tür eingeschlagen und hätte sie wenigstens mal gestreichelt, aber ich wusste von gar nichts  und die Hebammen und Ärzte behandelten mich weiterhin wie eine dumme Nuss. Im Nachhinein macht mich das am meisten sauer, denn wäre sie dort gestorben, hätte ich sie nicht einmal lebendig berührt.

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Drei lange Tage mussten wir warten bis die Ärzte unser Blühwürmchen wieder aufwachen ließen, drei Tage, in denen uns gesagt wurde, dass es sein kann, dass ihr Gehirn oder auch andere Organe Schaden genommen haben könnten. Genau dort fing mein „Schaden“ an. Ich fing an, mein Mädchen mit allen anderen Babys auf der Station zu vergleichen. Größe, Gewicht, Blick, usw. wurden genau von mir gescannt. Irgendwie musste ich ja rausfinden, ob mein Kind sich „normal“ entwickelte. Schon im Krankenhaus freute ich mich darüber, dass mein Mädchen mehr Haare hatte als ihr Bettnachbar. Mein Hirn  erfand die skurrilsten Möglichkeiten, um herauszufinden, ob mein Kind „gesund“ war, zum Beispiel wachsen Haare schließlich nur aus gesunden Köpfen, wie ja jeder weiß! Egal ob Babyschwimmen, Pekip-Kurs oder später im Kindergarten. Mein Kind wurde gnadenlos von mir mit allen Altersgenossen verglichen. Sie sollte möglichst in allen Bereichen am besten sein, durfte keine Fehler oder Makel haben. Sie sollte als erstes krabbeln, laufen und sprechen können, sie sollte die Schönste, Klügste und Beste auf der Welt sein, nur, damit ich sicher sein konnte, dass mein Blühwürmchen keine Folgeschäden von der Geburt davongetragen hatte.

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Die Ärzte bescheinigten ihr immer wieder eine sehr gute Entwicklung, sie hatte die Geburt definitiv ohne Schäden überstanden, aber ich sorgte mit meinem Verhalten dafür, dass sich mein Kind zu einem Supergirl mit großen Versagensängsten entwickelte. Jeder kleine Rückschlag brachte sie an den Rand der völligen Verzweiflung. Ein bisschen Pipi in der Hose mit 2 Jahren (Ja, mein Kind war natürlich schon ganz früh trocken!) war zum Beispiel der Weltuntergang. Sie versuchte immer alles ganz perfekt zu machen und ihr gelang es erstaunlich oft, alles genau richtig hinzubekommen. Sie entwickelte Strategien, um nicht gegen Regeln zu verstoßen, zum Beispiel fasste sie die noch völlig unreifen Erdbeeren wegen unseres Verbotes tatsächlich nicht an, dafür fanden wir sie bäuchlings im Beet liegend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und an den grünen Erdbeeren knabbernd. Not macht eben erfinderisch!

Das Schlimmste an der ganzen Situation war eigentlich, dass ich wusste, wie dumm ich mich verhielt und wie schädlich das für das Blühwürmchen war. Trotzdem kam ich da nicht raus: „Das Kind kann schon krabbeln und du noch nicht? Dann üben wir zu Hause mal ein bisschen, damit du es auch bald kannst!“. Ich kam da nicht raus! Genau so lange, bis ich mein zweites Kind bekam.

Die zweite Schwangerschaft verlief genau wie die erste bis zur 36. Woche unkompliziert, dann wieder das gleiche Drama mit verkalkter Plazenta und wenig Fruchtwasser. Ich dachte darüber nach, ob ich das alles nochmal aushalten könnte. Ich fragte nach einem Kaiserschnitt, aber weil nicht sicher war, was bei der ersten Geburt schiefgelaufen war, sollte ich wieder auf natürlichem Wege entbinden. Ich traute mir das auch zu, schließlich war beim ersten Mal ja alles am Ende gut ausgegangen. Also wieder ab ins Krankenhaus! Als die Herztöne beim CTG unter den Presswehen immer wieder ausblieben habe ich meinen „Schaden“ zum ersten Mal so richtig bemerkt. Ich bin ein sehr ruhiger und zurückhaltender Mensch, die sehr viel Vertrauen in Ärzte und Hebammen hat, aber als diese wieder abwarten wollten und sich nicht so richtig einig wurden, habe ich gebrüllt wie ein Löwe, dass sie sofort dieses Kind rausholen müssten, „sonst setzt es was!“ und tatsächlich wurden die Herrschaften dann schnell. Der Kaiserschnitt unter Vollnarkose verlief problemlos, mein Blühwürmchen hatte ich wieder nicht auf dem Bauch liegen, aber er war fit und gesund. Die Ärzte vermuteten nun, dass die Plazenta sich anscheinend schon unter der Geburt ablösen würde und dass es deshalb wohl zur Unterversorgung meiner Kinder kommen würde. Saugefährlich für das Kind und für mich natürlich auch!

In der ersten Nacht sah ich mein Kind neben mir im Bett an und bevor ich auch nur einen Vergleich ziehen konnte, wurde mir klar, dass meine Kinder perfekt sind, genau so, wie sie sind. Beide ganz unterschiedlich und beide für mich perfekt. Sie wurden nicht perfekter, wenn ein anderes Kind etwas nicht konnte, sie wurden nicht schöner, klüger oder besser, wenn die anderen Kinder hässlicher, dümmer oder schlechter waren. Und schon gar nicht würden sie gesünder werden, wenn die anderen Kinder kränker wären. Also beschloss ich, dass diese Vergleicherei, dieser hohe Anspruch, dieses Perfektionsdenken aufhören muss, damit meine Kinder „gesund“ aufwachsen. Das war mir in der Sache ja schon lange klar gewesen, aber die Umsetzung gestaltete sich schwieriger als gedacht. Der „Schaden“ sitzt tief und lässt sich nicht reparieren, immer aus Angst, dass irgendwas mit den Blühwürmchen nicht stimmen könnte.

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Noch heute stört es mich bzw. mein „geschädigtes Hirn“, wenn mein Kind nur die Zweite beim Lesewettbewerb wird, aber ich sage nicht mehr zu meinem heulenden Kind: „Dafür kannst du besser schwimmen als das Kind, das Erste geworden ist!“ oder „Dafür bist du viel Schöner und kriegst später den hübscheren Mann ab!“, nein, ich nehme sie in den Arm, tröste sie und sage: „Du kannst ganz toll lesen, mein Blühwürmchen!“. Und mein geschädigtes Hirn fügt ganz leise und innerlich hinzu: „Und außerdem ist dein großer Zeh viel größer als der von dem anderen Kind. Ätschbätsch!“

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9 Kommentare

  1. Das hast du sehr ergreifend geschrieben.
    Ich kann verstehen, dass das ein riesiger Schock war, solche Geburtsschäden wünscht man niemandem. Es freut mich für dich, dass ihr jetzt glücklich seid.

  2. Barbara Winstel sagt

    …der beste Bericht, den ich in dieser Kategorie je gelesen habe. Phantastisch geschrieben, pointiert, selbst-ironisch, nachdenklich und gleichzeitig nach vorne schauend. Mutig und super. Die Bilder sind wunderbar und Deine Offenheit ist es auch. Dass Dein schonungsloser Text auch seltsame Beiträge provoziert war Dir vermutlich bewusst und sollte Dich nicht beunruhigen. Kommentieren würde ich derartige Schläge unter die Gürtellinie nicht. Das ist ganz gewiss unter Deinem Niveau.

    Alles Gute für Dich und danke für diese wirklich prächtigen Zeilen.

    Evi

  3. Isabell sagt

    Ich habe ganz schön schlucken müssen bei deinem Text. Ich danke dir sehr für deine Offenheit, die ist dir sicher nicht leicht gefallen. Dies ist der erste Text in dieser Kategorie, bei dem ICH die Fotos lieber rausgelassen hätte. Die Fotos sind sehr schön. Ich glaube jedoch, hier sollte man die Persönlichkeitsrechte deiner Tochter mehr schützen.

    Ich kann nicht einschätzen, wie unbelastet deine Tochter aus dem ganzen herausgegangen ist. Spontan dachte ich aber, vielleicht würde ihr eine Spieltherapie gut tun. Und auch für dich solltest du abklären, inwieweit eine therapeutische Begleitung in Frage kommt. Du bist sicherlich auf dem richtigen Weg. Und das ist toll! Frag dich aber mal, ob der Weg für eine gesunde Psyche deiner Tochter nicht doch zu lang ist. Liebe Grüße und von Herzen alles Gute für dich und deine Familie!

  4. Wow. Das ist MEINE Geschichte. Zwar hatte ich die Bilderbuchschwangerschaft bis 40+4, aber dann ging es bei der Geburt nicht voran, und nach knapp 20 Stunden, einer abgerutschten Saugglocke und nicht passenden Zange wurde mit einem Notkaiserschnit meine Maus geholt. Und dann das gleiche Spiel wie bei dir, Asphyxie, Kältekoma, MRT …
    Ich hab aber dann eine andere Strategie entwickelt. Dass sie kognitiv keinen Schaden davongetragen hat, war sehr schnell klar, weil sie sehr früh gesprochen hat und bei den neurologischen Untersuchungen, die die erste 2,5 Jahre regelmäßig im KH gemacht wurden, eher nach oben aufgefallen ist.
    Dafür ist sie motorisch eher langsam und vorsichtig, schon immer gewesen. Spät gedreht, spät gekrabbelt, spät gesessen, spät gelaufen, immer eher unsicher, sie hat jetzt auch „erst“ mit 8,5 das Seepferdchen gemacht … Und ich ertappe mich manchmal bei dem Gedanken, diese „Fehler “ mit ihrem Start in Verbindung zu bringen. Wobei das garantiert nicht so ist – und noch dazu ja auch völlig egal, sie hat ihr eigenes Tempo. Im Kopf schneller als die anderen, mit den Füßen langsamer 😉.
    Ich wünsche dir und deiner Tochter ganz viel tolle, entspannte Zeit miteinander!
    Alles Liebe
    Luci

  5. E. Röben sagt

    Wow!!!
    Ich bin beeindruckt. Aus tiefstem Herzen total berührt, von diesem (deinem!) Bericht.
    Es tut so gut, von dir zu hören, wie offen und ehrlich und auch selbstkritisch du von deinem ganz persönlichen „Schaden“ berichtest. Danke dafür!
    Aus Eigener Erfahrung kann ich hier sagen, dass auch ich dieses Gefühl, meinen Kindern
    aufgrund meiner persönlichen Macke ( Kontrollwahn, Überbemuttern, nicht loslassen können, Vergleichen mit anderen, usw.) evtl. zu schaden, sehr gut kenne.
    Es ist harte Arbeit und ein langer mühseliger Weg… , aber auch mir gelingt es immer besser, diese negativen Verhaltensmuster Stück für Stück zu durchbrechen und anders damit umzugehen. Wir sind auf einem guten Weg!!
    Dir wünsche ich von ganzem Herzen eine rundum glückliche Zeit mit Deinen Kindern!
    ( so schön, die Fotos mit den beiden… 🙂

  6. Knodel Inge sagt

    Hallo, ich habe alles 2 mal gelesen. Ich glaube Sie haben richtig erkannt, dass sie einen an der Klatsche haben. Schlimm ist es nicht nur schade für die Kinder und für Ihren Mann. Haben Sie schon an eine Therapie gedacht? Gut finde ich, dass Sie an sich arbeiten. Mir ist auch klar, wie schwer es für Sie ist nicht in alte Verhaltensmuster zu fallen. Jeder Mensch sollte sich nach seinem eigenen Rhythmus entwickeln dürfen. Man darf ein Kind lenken und fördern aber nicht dressieren. Ein Kind gehört einem nicht, es ist nicht Eigentum sondern ein für sich eigenständiger Mensch den man behüten, erziehen und begleiten darf bis er seine eigenen Wege geht. Ihnen, Ihrem Mann und Ihren Kindern wünsche ich eine schöne Zeit mit viel Sonne im Herzen . Liebe Grüße Inge

    • Liebe Inge,
      ich finde „einen an der Klatsche haben“ ziemlich respektlos ausgedrückt. Und schade ist auch, dass psychische Erkrankungen (wie die Schreiberin sie offensichtlich durch ihre schwere Zeit bekommen hat) so abgetan werden. Klar, ist es furchtbar, wenn letztendlich die Kinder wegen des Verhaltens der Mutter (oder Vater oder beiden) auch krank werden…aber, in den wenigsten Fällen ist es der Mutter egal, viel mehr zerreißt es einen total. Aber das hast du dann ja wohl doch noch festgestellt und anerkannt …
      Grüße, Dorthe

      • Annika sagt

        Ich finde den Text sehr mutig, selbstkritisch und auch „humorvoll“ selbstreflektiert. Und deswegen empfinde ich die Reaktion darauf auch als nicht richtig. Da hat sich ein Mensch geöffnet, emotional entblöst … da darf man doch nicht „draufhauen“ und „nachtreten“!

        Ich bin keine „Übermutti“ und vergleichen finde ich generell irgendwie blöd und ich bin auch froh, dass ihr Sohn gleich anders aufwachsen konnte, aber so sollte man in meinen Augen nicht auf einen solchen Text reagieren!

        Liebe Grüße von Annika

  7. Nadine sagt

    Puh, danke für deinen offenen Bericht. Gehe bitte nicht so hart mit dir ins Gericht, den größeren „Schaden“ hatten hier eindeutig die Hebammen und Ärzte bei deiner ersten Geburt!

    Und auch wenn das hier ein bissel off topic ist: Genau das sind die jetzt noch nicht absehbaren Folgenschäden, wenn die Hebammenkrise so richtig vor die Wand fährt! Man stelle sich vor, wie anders die erste Geburt und auch die Entwicklung für dich als Mutter (und damit ja auch deiner Tochter) verlaufen wäre, wenn du eine 1:1-Betreuung mit einer Hebamme bekommen hättest, die dich schon vorher kannte und eben nicht als rauchende Teenie-Schwangere abgestempelt hätte! Die euch dann in den ersten Tagen unterstützen können u vielleicht auch durchgeboxt hätte, dass du zu deinem Kind auf die Intensivstation darfst. Die diesen Vergleichswahn von dir bemerkt hätte und versucht hätte, gegenzusteuern…

    Ich wünsche euch alles Gute!
    Nadine

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