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Mein Leben mit dem Besonderen #64 Ein besonderer Job

Obwohl in meiner Familie viele tolle besondere Menschen sind, hat doch niemand ein gewisses Extra und ich selber kann bis auf Neurodermitis und selbstverursachtes Übergewicht da auch nichts bieten, aber viele besondere Menschen mit vielen unterschiedlichen Schicksalen durfte ich bereits kennenlernen und begleiten.

Angefangen hat alles mit einem Jobangebot während der Schulzeit…ich glaube, ich war 16 als mich eine Bekannte meiner Eltern fragte, ob ich Lust hätte 1-2x pro Woche mit einem gleichaltrigen Mädchen spazieren zu gehen, es gäbe 5 DM die Stunde….in dem Alter braucht man Kohle und spazierengehen hört sich easypeasy an, also los….

Ich kam zum ersten Kennenlernen und landete völlig unvorbereitet in einer anderen Welt: in einer Wohnung, die komplett mit weißen Laken verhüllt war, mit der Bitte OP-Überschuhe über meine Strümpfe zu ziehen, mit einer Ladung Desinfektionsmittel in den Händen und damit, dass die Dame des Hauses ständig mit Hygienetücher über jede berührte Stelle wischt und mir nicht die Hand zur Begrüßung gab….ich durfte mich setzen und bekam von der Mutter erklärt, sie suche jemanden, der mit ihrer Tochter, die sich ihrer Meinung nach zu sehr in ihrem Zimmer einigelt spazieren geht und sie bei Unternehmungen begleitet, damit sie mehr unter Menschen kommt. Die Tochter habe Mukoviszidose, ich wüsste sicher was das wäre…und zack wurde die Tochter herbei zitiert und wir fanden uns vor der Tür wieder.

Blöde Situation….für beide….aber der Eisblock schmolz, als wir einfach ein paar Schritte gingen und zögernd ins Reden kamen…sie klärte mich auf, dass ihre Mutter durch die Krankheit ihrer Tochter einen Reinlichkeitswahn erster Güte entwickelt hat, der ihr kein normales Leben mehr ermöglicht und der Tochter das Leben schwer macht, weswegen sie sich oft zurückzieht…hui, viel Offenheit dafür, das wir uns gerade erst kennengelernt haben…das kann ich auch und so gestand ich, dass ich keinen Schimmer habe, was Mukoviszidose ist und für das Leben der Betroffenen bedeutet. (eine Beschreibung erspare ich an dieser Stelle, da gab es ja letztens hier einen Beitrag!!) Sie meinte nur sie bekomme oft schlecht Luft; müsse häufig inhalieren, viele Medikamente nehmen und wird vermutlich nicht alt. Da war ich sehr nachdenklich und auch irgendwie überfordert, aber sie sagte, eigentlich hätte sie einfach gerne jemanden zum Reden, am liebsten eine Freundin, da aufgrund ihrer Krankheit dies bisher immer schwierig war.

Wir trafen uns regelmäßig, gingen spazieren, ins Kino, auf ein großes Mukoviszidosetreffen, Eisessen usw. es wurde mehr als ein Job, eher eine Freundschaft. Irgendwann fragte die Mutter ob ich bereit wäre in den Ferien 2 Wochen mit S. nach Italien zu fahren, wir könnten in der Nähe von Pisa bei einer Bekannten wohnen und mit der Bahn anreisen. Ich sagte zu und bekam eine ausführliche Einweisung in Medikamente und Verhalten im Notfall etc.

Es war eine tolle Zeit, wir haben fast alles zu Fuss gemacht, es ging ihr in der Zeit richtig gut und wir konnten sogar für ein paar Tage nach Rom. Das Geld, welches die Mutter mir für die Zeit unbedingt zahlen wollte haben wir zusammen verprasst für leckeres Eis, Ausflüge, Souvenirs usw.

Wieder zu Hause fiel es ihr sehr schwer sich wieder in die beklemmende Atmosphäre bei der Mutter einzugewöhnen, sie wollte alleine wohnen…und im Haus nebenan wurde ein Wohnung frei.

Das Finanzielle und Behördliche wurde relativ zügig geregelt, dann wurde es leider schwierig…..die Wohnung gehörte vorher einer alten Dame, die nun verstorben war…niemand wollte die Einrichtung, was dazu führte, das S. einfach alles so lassen wollte um schnellstmöglich einziehen zu können. Ich hatte Freunde organisiert um die Wohnung auszuräumen, zu streichen und wieder einzurichten, Geld wäre auch kein Problem gewesen und trotzdem lehnte sie alle Hilfe ab…auch die Einwände, in den Polstermöbeln, der Matratze, den Teppichen etc. wären bestimmt jede Menge Keime etc. und es wäre sicher nicht gut für ihre Gesundheit wurden abgeschmettert, schlimmer noch, ich bekam zu hören, ich würde wie ihre Mutter reden….sie wollte so wohnen und sich von nun an von leckeren Dingen ernähren….Fast Food, Pizza, Limo, Cola, Chips, Süßes….alles worauf sie dank der Mutter bisher verzichten musste…und ich sollte einfach gehen und nicht wiederkommen.

Natürlich habe ich noch Versuche unternommen etwas zu ändern, aber ich war jung,überfordert, hatte noch meinen anderen Freundeskreis und war ehrlich gesagt wütend darüber, wie man sooo nachlässig mit seinem Leben umgehen konnte…..wir verloren uns also aus den Augen….2 Jahre später erfuhr ich von ihrem Tod.

Das Ganze hat mir aber klar gemacht, dass Menschen helfen eine tolle Aufgabe ist und so bewarb ich mich nach dem Abi um ein freiwilliges Soziales Jahr in einer riesigen Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Dort konnte man wohnen und am Tag meines Einzugs stand eine Frau vor mir und blaffte:“ Du gehörst also zu den Neuen???? Du schaffst hier keine Woche!!!!“ Superauftakt…

Sie machte sich einen Sport draus, die „Neuen“zu verschrecken, das erfuhr ich später. In dieser tollen Einrichtung arbeitete ich insgesamt 3 Jahre, ein FSJ und danach an den Wochenenden neben meiner Ausbildung, ich lernte viele verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen kennen, alles zu beschreiben würde den Rahmen sprengen, es waren viele fröhlich tolle Momente, ein paar anstrengende und ganz wenig traurige….einmal z.B. erzählte mir ein älterer Mann mit nur leichter geistiger Beeinträchtigung aus der Nazizeit, das war hart…er erzählte, dass es immer wenig zu essen gab und eines Tages gab es leckeren Pudding….alle die schlau genug waren haben ihn nicht gegessen erzählte er, alle anderen „gab es dann nicht mehr“.

Nach der Ausbildung habe ich der Liebe zuliebe das Bundesland gewechselt und musste leider auch meinen Job dort aufgeben, ich bin noch oft zu Besuch dort gewesen…

Im weiteren Berufsleben durfte ich den Aufbau und Neuanfang von zwei tollen Wohneinrichtungen miterleben und gestalten, und habe wieder soooo viele tolle Menschen kennengelernt. Ich half beim Selbstständig werden, half Wünsche zu erfüllen, begleitete Urlaubsreisen, Konzertbesuche, Ausflüge, Arztbesuche, Shoppingtouren,…………..Als ich von der einen Wohneinrichtung in die andere wechselte baten mich Eltern einer jungen Frau der ersten Wohneinrichtung die gesetzliche Betreuung ihrer Tochter zu übernehmen, während sie auf Weltreise sind, kann man ein besseres Lob für seine Arbeit bekommen???? Leider mussten wir nach 7 Jahren berufsbedingt noch einmal das Bundesland wechseln, da habe ich auch schweren Herzens die gesetzliche Betreuung abgegeben, ich hätte ihr nicht mit meinen Ansprüchen gerecht werden können auf diese Entfernung…zum Glück begegnete mir Verständnis und es besteht noch Kontakt zu der Familie.

Mit dem neuen Bundesland und mangels neuem Freundeskreis entdeckte ich mein nun liebstes Hobby, das Nähen, was ich seither in jeder freien Minute tu 😉

In einer der Babyschlafphasen vor Jahren fand ich bei der Suche nach Inspiration den tollen Blog von Sonea Sonnenschein und verfolge ihn seither regelmäßig, er vereint soo gut zwei völlig unterschiedliche Bereiche und hat mich tatsächlich auch zum selber Bloggen inspiriert 🙂

In die letzte Wohneinrichtung fuhr ich allerdings wieder jedes zweite Wochenende nachdem mein zweites Kind 10 Monate alt war, da ich hier in der Nähe nur eine ziemlich gruselige Verwahranstalt kennenlernen durfte mit beratungsresistenten Mitarbeitern….unerträglich….dann lieber dorthin wo man willkommen ist und gute Arbeit leisten kann (und ich konnte es damit kombinieren regelmäßig bei einer sehr lieben Freundin zu übernachten)

Je länger ich so arbeitete, desto mehr Proteste gab es zu Hause, weil ich die Wochenenden und teilweise die Feiertage weg war, also habe ich schweren Herzens Abschied gefeiert.

Aber da ich es nicht ganz lassen kann, begleitete ich von nun an mehrere tolle besondere Kinder durch ihre Kindergartenzeit als Integrationshelfer, ein ganz anderer Job aber auch eine tolle Aufgabe, die ich hoffentlich nach der momentanen Elternzeit wieder aufnehmen kann 🙂

Natürlich war es nicht immer nur einfach, es sind sooo viele Schicksale, so unterschiedliche Charaktere, nicht jeder wollte immer Hilfe und oft war die Arbeit mit den Angehörigen fast anstrengender als die in der Einrichtung. Auch behördliche Entscheidungen waren oft nur schwer zu akzeptieren und umzusetzen und mussten teilweise mit guten Argumenten „bekämpft“ werden, weil die Leute am Schreibtisch oft weit entfernt von der Realität sind.

Aber in all diesen Jobs bekommt man so viel zurück und hat mit tollen und vor allem oftmals ehrlichen Menschen zu tun!

5 Kommentare

  1. Sabine sagt

    Lieben Dank für deinen Bericht! Diese muko.Mama war ja wirklich krass neben der Spur. Mit Sicherheit eine Ausnahme. Ich würde dich ja gern auf dem Lillestoff Festival kennenlernen! Dein Blogpost hat mir sehr gefallen – alles! Liebe Grüße, Sabine

    • Melanie sagt

      Danke!!! Ich werde beide Tage da sein 🙂 und freue mich immer über neue Begegnungen 🙂

  2. Toll dass Du dich so engagierst und ehrlich schreibst! Wünsch dir alles Gute

  3. Wunderbar geschrieben. Deswegen mögen wir dich und deine Familie so!

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