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Mein Leben mit dem Besonderen #50 Mein Leben ohne Besonderheit

Ich heisse Susan, bin 43 Jahre alt und heute möchte ich über unser Leben mit dem Besonderen berichten. Die Besonderheit bei uns ist nämlich die: wir haben gar keine!

Wie ist es dann so – ein Leben ohne Besonderen? Man sollte meinen „normal“? Ohne größere Probleme, Entwicklungsstörungen, komische Eigenschaften oder Zukunftsängste? Ganz ehrlich gesagt, ja, es ist auch so. Wir haben zwei gesunde Kinder im Alter von 6 und 7 Jahren. Rosig ist es ja trotzdem nicht immer bei uns.

Ich lese seit längerem Katharinas Blog und bin jedes Mal aufs Neue fasziniert wie ehrlich, sympathisch, lustig und manchmal auch traurig die Beiträge sind. Manche Unterschiede sind sicherlich an das Down Syndrom zurück zu führen, vieles ist aber auch nur in der Natur des Kindes und im Alter zu suchen.

Wie aber begegnet man einer Familie mit dem Besonderen? Da gibt es viele Tabus, Unsicherheiten, Ängste und auch ganz viel Unwissen. Wir hatten bis dahin nicht näher mit jemanden zu tun gehabt der das Down Syndrom hat oder sonst jetwelche genbedingte Auffälligkeiten aufweist. In Theorie weiss ich ja,  dass man natürlich auftreten sollte, nicht starren soll, nicht tuscheln oder irgendwie sonst verkehrt reagieren soll. Was aber ist verkehrt? Und was richtig? Ist es ok wenn ich das Kind oder die Person anschaue und mir ein paar Gedanken mache? Wirkt das aufdringlich, mitleidig, kurios, verletzend? Oder soll ich so tun als ob nichts wäre und weiterziehen? Oder im versteckten einen Blick auf die Person werfen und mich fragen, was hier fehlt? Ich finde es ganz schwierig hier das richtige Verhalten an den Tag zu legen. Liegt das nicht in der Natur des Menschen, dass man Anderssein mit Interesse begegnet – eben weil es anders ist? Wieviel Interesse ist normal, wieviel aufdringlich?

Wenn ich im Alltag ein Kind mit Down Syndrom treffe dann denke ich sofort „oh nein, das arme Kind, die armen Eltern“ und gleichzeitig denke ich „zum Glück habe ich kein behindertes Kind“. Sofort danach kommt bei mir das schlechte Gewissen weil ich ÜBERHAUPT sowas gedacht habe.  Wieso armes Kind, wieso armen  Eltern, es ist doch nicht krank, es ist einfach nur anders? Oder denkt man da automatisch an die eigene Kindheit zurück, an das Ausgrenzen gewisser Kinder nur weil sie anders waren? Man war ja als Kind auch froh, gehörte man zur akzeptierten Fraktion. Ahnt man deswegen welche Schwierigkeiten auf einem zukommen könnten? Wieso denkt man da immer gleich negativ? Darf ich so denken, ist das normal, bin das nur ich? Oder macht MAN das einfach automatisch? Vieles hat auch mit Clichés und Vorurteile zu tun. Man hört z. Bsp., dass Kinder mit Down Syndrom weniger lang leben, dass es verschiedene „Stufen“ von Down Syndrom gibt, dass es vielleicht ein leichtes Syndrom hat. Darf man das fragen? Ist das nicht zu aufdringlich und persönlich? Woher soll man aber wissen ob es stimmt oder nicht? Vielleicht interessiert es mich wirklich – ohne Hintergedanken? Ich tue mich wirklich schwer mit gewissen Themen, das gebe ich zu. Ich wäre gerne entspannter in dieser Hinsicht.

Meine erste Begegnung mit dem Besonderen war vor 20 Jahren, da war ich in England als Austauschstudentin, ein Mitschüler sass im Rollstuhl und wir wurden Freunde. Wir pflegten in der Pause Tischtennis zu spielen – mehrere miteinander, um den Tisch rennend und rollend. Da bemerkte ich plötzlich, dass das Bein meines Freundes vom Rollstuhl hängte, er hatte es selbst noch nicht bemerkt. Ich sagte ihm „Marcel, dein Bein hängt raus, du musst es richten“. Und er sagte „Oh, danke“, tüddelte da am Bein rum und wir spielten weiter. So einfach war das. So natürlich. Das beeindruckte mich!

Noch nie habe ich so viel Demut empfunden wie bei der Geburt meiner zwei Kinder. Da war mir bewusst, welch Wunder die Natur entstehen lässt. 5 Finger an der Hand, alle perfekt, einen runden Kopf, zwei Beinchen, alles war da. Der Spruch „egal, ob Bub oder Mädchen, Hauptsache gesund“ während der Schwangerschaft habe ich oft gehört. Wieso hat man automatisch diesen Anspruch? Ein gesundes Kind kann später auch krank werden, es kann jederzeit sterben oder schwer behindert werden, es gibt keinen Anspruch bei Gott oder wem auch immer, dass man ein gesundes Kind sein ganzes Leben lang haben darf. Ist Down Syndrom schlimm? Das Kind ist doch auch gesund? Es ist doch „nur“ anders?

Mein Sohn hat sich bei der Geburt zwei Wirbel verrenkt und im Alter von 4 Monate stellte man fest, dass er sein Kopf nicht richtig drehen konnte. Durch das stetige Liegen auf die eine Seite, bekam er einen flachen Hinterkopf und die Schädeldecken verschoben sich. Als Folge davon, wurde er beim Chiropraktiker behandelt und bekam eine Helmtherapie verschrieben. Er musste also für knapp 3 Monate einen Helm tragen um die weichen Knochen wieder zurück zu schieben. Es war eine kurze Zeit, ich wusste auch dass alles wieder gut wird, aber es waren drei eigenartige Monate für mich. Die mitleidige Blicke der Leute um mich herum wenn ich ihn spazieren fuhr. Wenn ich ihm unterwegs im Schnell-Restaurant seinen Brei gab und alle rundherum ihn anstarrten. Wenn jeder schaute und niemand fragte… Unser Spruch in dieser Zeit war: „ach wissen Sie, er braucht einen Helm weil er uns ständig vom Wickeltisch fällt“… Wenn ich heute Eltern mit Helm-Kleinkinder sehe, dann spreche ich diese immer direkt an und erzähle, dass wir das auch hatten und dass alles gut geworden ist. Immer sind es schöne Augenblicke wenn die Eltern sich über die netten Worte freuen.

Ich kann nicht wirklich nachempfinden was Eltern eines behinderten Kindes im Alltag erleben. Oft ist er sicherlich lustig, fröhlich, bunt, chaotisch, laut und wahrscheinlich auch anstrengend, manchmal traurig oder nervenaufreibend. Aber ist mein Leben mit dem Normalen nicht auch so?

4 Kommentare

  1. Michaela Kastl sagt

    Ich fand Deinen Beitrag interessant, da ich doch so eine bin, die angestarrt wird. Meine kleine Tochter hat das Down Syndrom. Sie ist 2.5 Jahre alt.
    Wenn wir oft durch die Stadt gehen, merke ich diese Blicke. Vor allem Mütter mit Kindern im ähnlichem Alter schauen uns an, ja manchmal starren sie auch und ich bin kurz davor sie anzusprechen, ob sie Fragen haben. Ich merke dies Blicke und sie tun mir weh. Sie zeigen mir, was ich im Alltag oft vergesse: mein Kind ist anders, mein Kind ist behindert.
    Ich glaube besonders für Schwangere sind wir ein „Schreckgespenst“. Ich sehe den Frauen sichtlich an, dass sie denken, hoffentlich ist bei mir alles gut.
    Ich versuche locker zu sein, doch diese Blicke stören mich. Ich sehe den Leuten an, was sie denken „Down Syndrom? So alt ist die Mutter doch gar nicht“ „Bin ich froh, dass meine Kinder gesund sind“, „Na wenigstens haben sie noch ein gesundes Kind“ …..vielleicht bin ich auch manchmal zu empfindlich. Trotzdem wünsche ich mir in unserer Gesellschaft mehr Selbstverständlichkeit für meine kleine Tochter. So wie sie ihr in der Krippe oder von ihrer Schwester entgegen gebracht wird: sie ist einfach nur ein Kind, das geliebt wird.

  2. Ein ganz wunderbarer Beitrag. Ich selbst kann von dem anstarren auch ein Lied singen. Unser Sohn ist zehn Jahre und blind (er hatte einen schwerer Start,kam in der 25.SSW). Um so glücklicher und stolzer bin ich auf ihn,weil er so ein tapferer Kämpfer war. Und vermutlich bin ich auch umso empfindlicher,wenn ich täglich erlebe das wir angestarrt werden,als kämen wir vom anderen Stern. Jedes Mal nehme ich mir vor, die Leute darauf anzusprechen,ihnen zu sagen,dass es uns gut geht.;) Aber in den meisten Fällen bin ich im ersten Moment oft wie gelähmt und bringe kein Wort heraus. Mein Mann ist da ganz anders, er ist im Urlaub auch schon beim Essen an den Nachbartisch gegangen und hat darum gebeten,bitte dieses anstarren sein zu lassen. Mir persönlich ist es lieber, wir werden angesprochen. Gerade auch wenn Kinder ihre Eltern fragen, würde ich mir öfter wünschen, dass sie ihnen sagen, geh doch mal hin und frag. Leider erlebe ich oft das Gegenteil, das Kind wird weggezogen und ermahnt nicht so zu starren und selbst verrenken sie sich fast den Hals. Es ist schwer zu sagen,was richtig und was falsch ist,eben weil auch jeder Mensch anders tickt. Der eine freut sich übers ansprechen,der andere möchte in Ruhe gelassen werden. Aber eigentlich möchten wir nur eins,keinen Sonderstatus.

  3. anika sagt

    Sehr schön geschrieben!
    Mir geht es ähnlich, auch ich weiss oft nicht wie ich mich verhalten soll wenn mir besondere Menschen über den Weg laufen. Natürlich ist starren blöd, aber gucken muss ich doch! Wie soll ich die Vielzahl an Menschen sonst als normal empfinden?
    Ich glaube es gibt auch kein richtiges Verhalten, denn jeder Mensch ist so besonders das er anders reagiert als der Rest der Welt.
    Wenn ich Gespräche mit meisst Eltern oder Behinderten gesucht habe, habe ich mich bestimmt mehr als einmal in die Nesseln gesetzt und habe mich hinterher an den Kopf gefasst und gefragt :Was habe ich denn da für einen Stuss geredet. Aber ob rüberschieln, anstarren oder ansprechen…..solange keine Abneigung ,in meinem Fall meiner Tochter gegenüber, zu spüren ist finde ich alles OK. Und entweder ich finde mein Gegenüber blöd oder nicht….wie im normalen Leben.
    LG Anika

  4. Knodel Inge sagt

    Klar ist es mit den Normalos auch chaotisch. Ich bin 1951 geboren und mit schwer Kriegsversehrten aufgewachsen. Für mich sind Menschen mit Handicap normal weil ich es nicht anders kenne. Meine Kinder haben damit auch kein Problem weil mein Vater schwer kriegsversehrt war und meine Tochter also ihre Schwester mit 23 an Schizophrenie erkrankte. Mit meinen Enkeln spreche ich darüber wenn ihnen jemand mit einem Handycap auffällt sie Fragen haben und stellen. Dies kommt allerdings selten vor. Bereits im Kindergarten hatten bzw. haben sie Spielkameraden mit Handicap und somit kein Problem. Wenn gesunde Kinder mit Drogen, Alkohol und Anderem in Verbindung kommen, kann schnell aus einem Normalo ein Mensch mit Handycap werden. Leider überlegen das viele Familien nicht. Habe aber auch festgestellt, dass ein Umdenken langsam aber stetig statt findet. Liebe Grüße Inge

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